Notstandsgesetze: Wie der Staat in Krisenzeiten funktioniert

Die Lage in der Corona-Krise ändert sich täglich, und mit ihr auch die Regeln und Verbote für die Bevölkerung. Da die meisten Entscheidungen von den Ländern und Kreisbehörden getroffen werden, gibt es keine bundesweit einheitlichen Maßnahmen. Doch die Verfassung sieht ein Instrument vor, das der Bundesregierung in Krisensituationen weitreichende Befugnisse einräumt. 

#kurzerklärt

von Susan Jörges, 19.03.2020

Beinahe täglich treten neue staatliche Anordnungen in Kraft, die die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 verlangsamen und eindämmen sollen. Gestern wurde für die Gemeinde Mitterteich in der Oberpfalz eine Ausgangssperre verhängt, die sich zu einem Corona-Schwerpunkt entwickelt hatte.

Über einzelne Maßnahmen, etwa Grenzschließungen, entscheidet zwar die Bundesregierung, doch in den meisten Fällen liegt die Entscheidungshoheit bei den Ländern, die ihre Kompetenzen häufig auf die Kreis- oder Kommunalebene verlagern, so will es der Föderalismus in Deutschland. Sie können eigenständig über die Schließung von Schulen und Kitas, die Öffnungszeiten von Geschäften, die Verschiebung des Semesterbeginns oder regionale Ausgangssperren entscheiden. Auch die Meldung von Corona-Fällen liegt in der Obhut von kommunalen Gesundheitsbehörden, die nach dem Infektionsschutzgesetz handeln. Diese müssen Informationen und Lageberichte an das Bundesministerium für Gesundheit melden. Und so waren Empfehlungen von Gesundheitsminister Jens Spahn zur Absage von Großveranstaltungen oder zum Wechsel ins Homeoffice in der vergangenen Woche eben nur die Empfehlungen eines Bundesministers – und damit nicht bindend.

In Wochen wie diesen liegt die Frage nahe, welche Möglichkeiten die Verfassung für Krisenzeiten vorsieht, wenn der Föderalismus an seine Grenzen stößt. Zum Beispiel dann, wenn einzelne Bundesländer Maßnahmen ergreifen, die im Widerspruch zu denen in anderen Bundesländern stehen – eine Situation, die für eine effiziente Pandemiebekämpfung hinderlich sein könnte und rasche Entscheidungen erschwert. Welche Möglichkeiten hätte die Bundesregierung, um bundesweit einheitliche Maßnahmen durchzusetzen?

Durchgriffsrechte für den Bund

Für besondere Krisenlagen gibt es eine Notstandsverfassung, die die Handlungsfähigkeit des Staates in Ausnahmesituationen sicherstellen und das Durchgriffsrecht des Bundes ermöglichen soll. Die sogenannten Notstandsgesetze sind freilich keine eigenständigen Gesetze, sondern überwiegend Ergänzungen von Artikeln des Grundgesetzes und enthalten Regelungen für 

  • den Verteidigungsfall, zum Beispiel bei militärischen Bedrohungen 
  • den inneren Notstand im Falle von Angriffen auf die Grundordnung oder den Bestand des Staates
  • den Katastrophenfall bei Unglücksfällen, Seuchen oder Epidemien wie im derzeitigen Fall des Sars-CoV-2-Virus.

Wie kommen die Notstandsgesetze zur Anwendung?

Während ein Verteidigungsfall laut Verfassung durch den Bundestag festgestellt werden muss, gibt es für die Feststellung eines inneren Notstandes oder eines Katastrophenfalls keine verfassungsrechtlichen Regelungen. Hier entscheidet die Bundesregierung selbst und ohne eine formelle Verkündung, wann ein Notstand bzw. Katastrophenfall gegeben ist. Eine Einschränkung von Grundrechten muss auf Grundlage konkreter Einzelgesetze erfolgen. So bildet etwa das Infektionsschutzgesetz die gesetzliche Grundlage für die Ausgangssperre im oberpfälzischen Mitterteich.

Welche Maßnahmen könnte die Bundesregierung mithilfe der Notstandsgesetze ergreifen?

Wenn die Bundesregierung einen inneren Notstand oder einen Katastrophenfall festgestellt hat, kann sie

  • Anweisungen an die Landesregierungen geben, die zwingend umgesetzt werden müssen.
  • die Bundespolizei und die Bundeswehr zum Schutz der Ordnung und des Zivillebens im Inneren einsetzen, auch die Außengrenzen können so geschützt werden. Bundestag oder Bundesrat können den Einsatz der Bundeswehr per Beschluss stoppen.
  • die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger einschränken. Hiervon betroffen sind das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10 Grundgesetz) sowie die Freizügigkeit (Artikel 11 Grundgesetz).

Der Grundgesetz-Artikel 11 garantiert jeder Staatsbürgerin und jedem Staatsbürger das Recht auf eine freie Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte garantiert ebenfalls die Freizügigkeit. Diese „gibt jedem Menschen das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen sowie jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren“, heißt es in Artikel 13.  Sollten die Notstandsgesetze in Kraft treten, dürfte die Bundesregierung die Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger einschränken, um der weiteren Verbreitung des Virus bundesweit mit einheitlichen Maßnahmen entgegenzuwirken. 

Notstandsgesetze wegen der Corona-Krise wären ein Novum

Ausgangssperren

Für bundesweite Ausgangssperren gibt es nach Ansicht von Juristen wie der Verfassungsrechtlerin Anika Klafki derzeit keine gesetzliche Grundlage. Weder das Infektionsschutzgesetz, noch die polizei- und katastrophenrechtlichen Gesetze hielten entsprechende Befugnisnormen bereit, so Klafki, deren Schwerpunkt der rechtliche Umgang mit Pandemien ist. Nötig wäre ein neues Gesetz des Bundestages.

Die Notstandsgesetze gibt es seit über einem halben Jahrhundert. Am 30. Mai 1968 erlangten sie nach mehr als zehn Jahren parlamentarischen Streits die erforderliche Zweidrittelmehrheit der bundesweit ersten Großen Koalition unter dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, sie traten am 28. Juni 1968 in Kraft. Die FDP stimmte gegen die Notstandsgesetze, sie fürchtete einen Eingriff in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Begleitet wurde der Gesetzgebungsprozess von massiven Protesten der „außerparlamentarischen Opposition“ in den 60er Jahren. Studenten, Intellektuelle, Gewerkschaften und andere leisteten Widerstand, unter anderem beim Sternmarsch in Bonn am 11. Mai 1968. 10.000 Demonstranten versammelten sich in der damaligen Hauptstadt.

In der aktuellen Corona-Krise wurde in mehreren Ländern – u.a. in Italien, Spanien und den USA - bereits ein Notstand (oder „Alarmzustand“) ausgerufen. In Deutschland haben Politiker weitere, über die bestehenden Maßnahmen hinausgehende Instrumente nicht ausgeschlossen. Notstandsgesetze wären das weitreichendste verfassungsrechtliche Mittel und ihre Inkraftsetzung ein Novum: Noch nie in der bundesdeutschen Geschichte kamen Notstandsgesetze zur Anwendung.


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