Frage an Birgitt Bender bezüglich Arbeit und Beschäftigung

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Birgitt Bender
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage an Birgitt Bender von Jörg W. bezüglich Arbeit und Beschäftigung

Sehr geehrte Frau Bender,
seit den 70er-Jahren wird bei jeder Bundestagswahl von den ´großen Parteien´ - und später auch von den Grünen - die Frage der Senkung der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt gestellt und Versprechungen gemacht, wie sie gesenkt oder gar beseitigt werden könne. Seit der Regierung Schmidt beendete jede Regierung ihre Amtszeit mit einer höheren Arbeitslosigkeit, als bei ihrem Antritt vorhanden war (1974: 582.000; 2005: über 5 Millionen - offiziell!). Alle diese Parteien haben immer versprochen, dass die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn die Unternehmen (Großkonzerne) entlastet werden - ohne Erfolg. Auch die jetzigen Wahlprogramme von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen setzen auf dieses längst gescheiterte Konzept. Die Frage ist, ob Sie und Ihre Partei überhaupt noch an der Senkung der Arbeitslosigkeit interessiert sind.
MfG
Jörg Werner

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Werner,

ich gebe Ihnen Recht, dass eine Regierung nicht versprechen sollte, Arbeitslosigkeit abzuschaffen oder zu halbieren o.ä. Denn jede Regierung kann und soll sich zwar dafür einsetzen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und den Abbau bestehender Arbeitsplätze zu verhindern, doch kann sie dafür immer nur die Rahmenbedingungen schaffen und nicht die Arbeitsplätze selber. Einfache und schnelle Lösungen hierfür gibt es nicht. Und ohne die Unternehmen mit ins Boot zu nehmen, wird es auch nicht gelingen.
Es ist deshalb wichtig, sich zu fragen, wo neue Beschäftigungschancen liegen und wie sie erschlossen werden können. Dabei muss es für Deutschland einerseits um hochqualifizierte Arbeitsplätze in Wissenschaft, Forschung und wissenszentrierten Dienstleistungen gehen. Andererseits ist es aber auch dringend erforderlich, neue Beschäftigungschancen für diejenigen zu schaffen, die besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Bündnis 90 / Die Grünen haben Ökonomie und Ökologie als erste zusammen gedacht und zusammen gebracht. Mit unserer Politik der ökologischen Modernisierung haben wir hunderttausende neue Arbeitsplätze geschaffen. Erneuerbare Energien sind viel arbeitsplatzintensiver als die Atom- oder Kohleenergie. Bereits heute finden mehr als 130.000 Menschen Arbeit im Bereich Erneuerbare Energien. Deutschland ist bei den erneuerbaren Energien weltweit führend. Durch die Entwicklung neuer Technologien im Energiebereich kann Deutschland Produkte, Dienstleistungen und Wissen exportieren.

Durch die Reformen in den sozialen Sicherungssystemen haben wir den Anstieg der Ausgaben gebremst. Ohne die Ökosteuer wäre der Beitrag zur Rentenversicherung um 1,7 Prozentpunkte höher. Die Förderung der Forschung durch den Bund haben wir von 1998 bis 2004 um fast 40 Prozent gesteigert. So haben wir unseren Teil dazu beigetragen, den Anteil der Mittel für Forschung und Entwicklung im gesamten Bruttoinlandsprodukt auf 2,5 Prozent zu steigern. Hier werden die Grundlagen für die Arbeitsplätze der Zukunft gelegt. Für Existenzgründer gibt es auch mehr Spielraum beim Aufbau ihres Unternehmens. Für sie ist es seit 2004 möglich, Arbeitnehmer anstatt wie bisher zwei Jahre nun vier Jahre lang befristet einzustellen. Damit wird Existenzgründern die Entscheidung zu Einstellungen erleichtert und sie können flexibel auf die Entwicklung ihres Unternehmens reagieren. Wir haben die geringfügige Beschäftigung reformiert. Haushaltsnahe Minijobs haben wir durch ein unbürokratisches Meldeverfahren und stark verringerte Sozialversicherungsbeiträge attraktiv gemacht. Von rund 25.500 Jobs in Haushalten vor der Reform im April 2003 ist die Zahl der haushaltsnahen Minijobs bis zum Jahresende 2004 auf über 100.000 angestiegen. Auch die gewerblichen Minijobs sind stark angewachsen. Die mangelnde soziale Absicherung der Minijob Inhaber bleibt allerdings die Achillesverse dieser Regelung.
Deutschland hat großen Aufholbedarf im Bereich der Dienstleistung, insbesondere der personen- und haushaltsnahen Dienstleistungen. Die Gesundheitswirtschaft ist eine der wichtigen Wachstumsbranchen der Zukunft. Dort können bis 2020 rund 600.000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Auch nachhaltiger Tourismus wird ein zunehmend wichtiger Faktor für den lokalen Arbeitsmarkt. Durch neue Wohnformen und veränderte Bedarfe profitiert auch das örtliche Handwerk von einer alten Gesellschaft und ihren neuen Bedürfnissen.

Wenn wir diese Beschäftigungsfelder erschließen wollen, ohne wie von CDU/CSU und FDP gefordert einen Niedriglohnsektor zu installieren, stellt sich unweigerlich die Frage nach einer beschäftigungsfreundlichen Ausgestaltung der Sozialversicherungssysteme. Für die Nutzung der brachliegenden Potentiale müssen wir in der Finanzierung unseres Sozialstaats umsteuern. Neben einer gerechteren Verteilung der Beiträge zur Sozialversicherung durch die Bürgerversicherung müssen wir in Zukunft die soziale Sicherung stärker über Steuern finanzieren. Wir wollen dabei das Gesamtvolumen von Abgaben und Steuern nicht anheben, sondern das Verhältnis der beiden neu bestimmen. Wir wollen weg von Abgaben auf Arbeit hin zu Steuern und einer stärkeren Belastung höherer Einkommen. Das schafft Arbeit. Die hohen Lohnnebenkosten erweisen sich insbesondere dort als Bremse für neue Arbeitsplätze, wo außerhalb der klassischen Industrie gearbeitet wird. Überall dort, wo der Mensch im Mittelpunkt des Schaffens steht, führen die hohen Lohnnebenkosten regelmäßig dazu, dass Arbeit schwarz durchgeführt wird oder Arbeitsplätze gar nicht erst entstehen. Im internationalen Vergleich sind die Sozialabgaben auf Arbeit in Deutschland extrem hoch. Die Belastung mit Steuern ist dagegen fast so niedrig wie in den USA. Im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern, Großbritannien und den Niederlanden liegt der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor in Deutschland denn auch um rund 10 Prozentpunkte niedriger.
Deshalb müssen wir bei den unteren Einkommen Lohnnebenkosten gezielt reduzieren und dabei das Niveau der sozialen Sicherung für die Beschäftigten erhalten. Der Keil zwischen Brutto- und Nettoeinkommen sollte in diesem Bereich verkleinert werden, und zwar insbesondere dort wo er existenzsichernde Arbeit gefährdet, am unteren Ende des Einkommensspektrums. Für Alleinerziehende, für Teilzeitbeschäftigte und für Geringqualifizierte können auf diese Weise neue Erwerbsmöglichkeiten erschlossen werden.
Die Senkung der Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich ist ein effektiver Beitrag zur Beschäftigungsförderung mit positiven Auswirkungen auf Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage. Vom Bruttolohn bleibt mehr beim Arbeitnehmer, und Arbeitgeber tun sich leichter, neue Arbeitskräfte einzustellen. Das ist durch eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge bei kleinen Einkommen möglich (Progressiv-Modell). Eine Alternative dazu ist die Einführung eines Freibetrags, der von Sozialversicherungsabgaben ganz freigestellt wird (Freibetragsmodell). Beides entlastet schwerpunktmäßig kleine Einkommen.

Mit freundlichen Grüßen
Biggi Bender