Frage an Hans-Christian Ströbele bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Hans-Christian Ströbele
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Maria G. •

Frage an Hans-Christian Ströbele von Maria G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Stroebele,

Meine Frage bezieht sich auf folgendes Thema:

"Nach Angaben des Bundesjustizministeriums in Berlin wurden von 1998 bis 2004 bereits 84 Prozent unserer Gesetze in Brüssel beschlossen und nur 16 Prozent vom Bundestag in Berlin."

Quelle: http://www.rp-online.de/public/article/politik/ausland/417406/Gefahr-aus-Bruessel.html

Im Grundgesetz steht, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen muss, also von der Staatsbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.

Nun frage ich mich, wie es mit dem Grundgesetz vereinbar sein kann, wenn der grösste Teil unserer Gesetze von einem Gesetzgeber erlassen wird, der nicht von der deutschen Staatsbevölkerung gewählt wird.

Brüssel ist nicht vom deutschen Volk damit beauftragt worden, Gesetze für uns zu erlassen. Nur der Deutsche Bundestag ist als Gesetzgeber vom gesamten deutschen Volk mit der Gesetzgebung beauftragt worden, nicht die EU-Institutionen.

Wie also ist das alles mit dem Grundgesetz vereinbar?

Mit freundlichen Grüßen

Maria Geisner

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Geisner.

Sie haben recht, viele Gesetze in Deutschland gehen inzwischen auf Rechtsakte der EU zurück. Aber es ist keineswegs so, daß diesen deshalb die demokratische Legitimation völlig fehlt.
Sie haben auch recht, wenn Sie darauf hinweisen, daß nach dem Grundgesetz alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Das steht in Artikel 20 Absatz 2 Satz 1. Aber dort steht nicht vom "deutschen" Volk oder, wie Sie formulieren, von der "Staatsbevölkerung der Bundesrepublik". Und in Artikel 23 des Grundgesetzes wird hinzugefügt, daß die Bundesrepubblik bei der Entwicklung der Europäischen Union zur Verwirklichung eines vereinten Europas mitwirkt und daß der Bund hierzu durch gesetz Hoheitsrechte übertragen kann. Das Grundgesetz enthält darüber hinaus ausdrücklich Regelungen, wie und inwieweit solches europäisches Recht für Deutschland verbindlich übernommen werden kann.
Die demokratische Legitimation erhalten die Gesetze dadurch, daß zum Teil das Europäische Parlament, deren Mitglieder in den Staaten der EU, also auch in Deutschlang gewählt werden, bei den europäischen Rechtsakten mitwirkt und, daß die Ausführungsgesetze in Deutschland durch das Parlament beschlossen werden. Das EU-Parlament teilt sich die Gesetzgebungsfunktion mit dem Rat der Europäischen Union. Beim "Mitentscheidungsverfahren" werden die europäischen Gesetze nach einem mehrstufigen Verfahren zwischen Rat und Parlament beschlossen, das stark an das Ablaufschema zwischen Bundesrat und Bundestag bei zustimmungspflichtigen Gesetzen erinnert. Können sich Rat und Parlament nicht einigen, so versucht ein Vermittlungsausschuss, einen Kompromiss zu erarbeiten, der die Zustimmung beider Organe findet. Gelingt dies nicht, so kann das Parlament den Rechtsakt mit absoluter Mehrheit zu Fall bringen. Allerdings hat das Parlament kein Initiierungsrecht, sondern der Europäischen Kommission. Rechtsakte der EU werden vom Bundestag in nationales Recht umgesetzt, er hat aber auch die Möglichkeit die Entstehung dieser Rechtstakte zu beeinflussen.

Bundestag und Bundesrat wirken in Angelegenheiten der Europäischen Union an der Gesetzgebung auch mit. Die Bundesregierung hat beide über die Willensbildung, den Verlauf der Beratungen, die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission, die Stellungnahmen der anderen Mitgliedstaaten sowie über die getroffenen Entscheidungen "umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten". Beide haben das Recht Stellung zu nehmen. Die Meinung des Bundestages muss die Bundesregierung "maßgeblich zu Grunde legen", wenn die Haltung im Rat in Brüssel definiert wird. Sind Länderinteressen berührt, muss die Bundesregierung auch seine Auffassung maßgeblich berücksichtigen.
Die Mitwirkung des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union ist im Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesregierung in Angelegenheiten der EU (EUZBBG) geregelt. Vor den halbjährlich stattfindenden Tagungen des Europäischen Rats steht der Bundeskanzler/ die Bundeskanzlerin dem vom Bundestag eingesetzten EU-Ausschuss regelmäßig Rede und Antwort über die Agenda des Gipfels sowie über den Stand der europäischen Integration.
Der EU-Ausschuss ist einer der Ausschüsse, die in der Verfassung ausdrücklich genannt werden. Nach Art. 45 GG muss der EU-Ausschuss in jeder Legislaturperiode eingesetzt werden. Über den Ausschuss wird der direkte Informationsaustausch zwischen den Parlamenten erreicht. Der EU-Ausschuss ist als Integrations- und Querschnittsausschuss der zentrale Ort des europapolitischen Entscheidungsprozesses. Im EU-Ausschuss werden Grundsatzfragen der europäischen Integration verhandelt, er unterrichtet über alle integrationspolitischen Vorhaben auf deutscher und europäischer Ebene. Die regelmäßige Tätigkeit des Ausschusses wird von der Kontrolle der Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union bestimmt. Denn der EU-Ausschuss des Bundestages genießt das Sonderrecht, Stellungnahmen zu verabschieden, die für die Bundesregierung ebenso verbindlich sind wie die Beschlüsse des Bundestages.

Trotz alledem bleiben Defizite. Denn die Rechte des EU-Parlaments sind immer noch zu stark eingeschränkt. Der Lissabon-Vertrag soll weitere Befugnisse für das EU-Parlament bringen. Aber auch nach dessen Inkraftreten wird nicht alles gut.Es bleibt noch viel zu erkämpfen.

Mit freundlichem Gruß
Ströbele