Frage an Hans-Christian Ströbele bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Hans-Christian Ströbele
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Korbinian P. •

Frage an Hans-Christian Ströbele von Korbinian P. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Guten Tag Herr Ströbele

Wie stehen Sie Menschen gegenüber die die momentane parlamentarische Demokratie kritisch betrachten und sich direktere Formen der Mitgestaltung von Politik wünschen? Ich persönlich sehe zentralistisch geführte Staaten nicht mehr tauglich in einer vernetzten und extrem komplexen Weltordnung sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Sollte in Ihren Augen Entscheidungsgewalt dezentralisiert werden oder denken Sie dass man die anstehenden Herausfordungen lösen kann wenn die richtigen Personen an die Macht kommen? Ich erkenne durchaus die Vorteile einer EU, frage mich aber inwiefern ein Superstaat Antworten auf eine sich diversifizierende Gesellschaft finden kann. Demokratie bedeutet aus meiner Sicht dass Mehrheiten gewählt werden die dann über Minderheiten entscheiden. In meinen Augen sollte immer das Individuum im Mittelpunkt stehen und niemals das Kollektiv. Sogar das Individuum ist eine Organisationsform die man kritisch hinterfragen könnte und eigentlich auch als Dividuum bezeichnet werden müsste. Also: sehen Sie die derzeit bestehende parlamentarische Demokratie als beste Ausformung der Mitgestaltung an oder können Sie sich auch andere Systeme vorstellen?

mit sehr freundliche grüßen

Korbinian Polk

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Polk.

Sie haben recht. Möglichst viele politischen Entscheidungen sollten dezentral gefällt werden. Dann werden die Probleme und Interessen der Bürgerinnen und Bürger vor Ort besser berücksichtigt. Allerdings wird es immer viele Entscheidungen geben, die für ein größeres Gebiet also einen Staat oder einen ganzen Staatenverbund gelten sollen und deshalb nach dezentralen Diskussion zentral getroffen werden müssen. Aber grundsätzlich sollten viel mehr dezentralisiert werden. Die Rechtsordnung für die EU sieht dies auch mit dem Prinzip der Subsidiarität vor, leider sieht die Praxis häufig anders aus.
Unter dem Subsidiaritätsprinzip wird in der EU verstanden, daß die politischen Entscheidungen soweit wie möglich in den Regionen, einzelnen Staaten und deren Untergliederungen getroffen werden sollen und EU-weite Regeln und Richtlinien nur subsidiär vorzusehen sind.
Ich verhehle nicht, daß ich Anhänger der Idee der Räterepublik gewesen bin.
Allerdings sehe ich, daß die parlamentarische Demokratie die bisher beste funktionierende Herrschaftsform ist. Das heißt nicht, daß es keine bessere gibt. Nur haben andere Systeme gerade auch in Deutschland und Europa nicht funktioniert oder - viel schlimmer - zu unerträglichlichen und unmenschlichen Ergebnissen geführt.
Die parlamentarische Demokratie sollte deshalb weiterentwickelt werden, mit mehr Einflußmöglichkeiten der engagierten Bürgerinnen und Bürgern durch ein verändertes Wahlrecht aber auch durch Volksbegehren und Volksentscheide auf allen politischen Ebenen.
Aber die Idee der Räterepublik habe ich nicht aufgegeben. Im Frankreich der Französischen Revolution 1789 und in Bayern nach dem 1. Weltkrieg gab es Versuche mit Räten, die die politischen Entscheidungen in Staat und Gesellschaft diskutierten, trafen und umzusetzen versuchten.
Auch in den sozialen Bewegungen der sechziger, siebziger Jahre und danach wurden in der Bundesrepublik und Westberlin andere räteähnliche Entscheidungsstrukturen in Kollektiven ausprobiert und praktiziert. Eine Zeitlang war es schon fast selbstverständilich, daß nicht nur in politischen Zusammenhängen, sondern auch sonst im alternativen Arbeits- oder Wohnbereich nicht auf Anweisung einer Führung und auch nicht stets mit Mehrheit, sondern in einem langen Beratungsprozeß gemeinsam entschieden wurde. Das war zeitintensiv, mühselig und auf Dauer kaum durchhaltbar. Solche Strukturen wurden dann irgendwann aufgegeben. Aber warum sollen die gemachten Erfahrungen nicht ausgewertet und neue Wege weiter ausprobiert werden mit dem Ziel, irgendwann ein menschlicheres "Herrschafts"-System für Staat und Gesellschaft zu erreichen. Auch die heutige Form der parlamentarischen Demokratie ist nicht in einer Generation entstanden und entwickelt worden.

Mit freundlichem Gruß
Ströbele