Frage an Hans-Christian Ströbele bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Hans-Christian Ströbele
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Michael B. •

Frage an Hans-Christian Ströbele von Michael B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Ströbele,

als langjähriger "Sympatisant" der Grünen Politik war es für mich ein Schlag ins Gesicht, dass sich fast die Hälfte der Stimmberechtigeten Abgeordneten der Grünen bei der Abstimmung über das "Zugangserschwernisgesetz" gegen kinderpornographie enthalten haben, obwohl doch vorher laut verkündet wurde, dass man für Bürgerrechte und gegen Zensur ist. Warum sollte ich also im September die Grünen wählen, wenn die von mir verliehene Stimme gerade bei so einer entscheidenden und folgenschweren Abstimmung nicht genutzt wird ? Haben hier die Grünen nicht auch nur gute Miene zum bösen spiel aufgrund irgendwelcher faulen Kompromisse gemacht ?

Und meine zweite Frage an Sie: was sehen Sie in der Piratenpartei ? Denn es gibt durchaus Parallelen von der Entstehung der Grünen und den Piraten, auch wenn der "Auslöser" und die Beweggründe erstmal unterschiedlich sind. Wenn schon ein so eingefleischter Politiker wie Jörg Tauss wechselt, ist das nicht ein klares Zeichen ? Auch für die Grünen ?
Haben Sie den Eindruck, dass gerade aufgrund der grünen Verganenheit wieder neu nachgedacht wird ? Oder wird die Entwicklung nur belächelt und es geht weiter wie bisher ?

vorab vielen Dank für Ihre Antwort.

MfG

Michael Brandl

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Brandl.

In der Abstimmung zur Internetsperrung von Aufnahmen mit Kinderpornographie haben 33, und damit mehr als Zweidrittel, der Grünen Abgeordneten im Bundestag mit NEIN gestimmt, 15 mit Enthaltung. Daß sich "fast die Hälfte der stimmberechtigten Abgeordneten der Grünen bei der Abstimmung enthalten" haben, ist deshalb nicht richtig. Drei Abgeordnete waren nicht anwesend. Zumindest von einem weiß ich, daß er wegen schwerer Krankheit eines Angehörigen an der Abstimmung nicht teilnehmen konnte.
Niemand von den Grünen hat für den Gesetzentwurf der Koalition gestimmt.
In der Fraktionssitzung vor der Abstimmung war ein Entschließungsantrag einstimmig bei einer Enthaltung verabschiedet worden, in dem der Gesetzentwurf abgelehnt wird und die Gründe, die dagegen sprechen, aufgeführt werden. Auch die Abgeordneten der Grünen, die nicht mit NEIN gestimmt haben, haben alle bis auf eine Ausnahme für diesen Entschließungsantrag gestimmt und auch sonst immer wieder betont, daß sie den Gesetzentwurf der Koalition nicht für richtig halten und nicht unterstützen.
Parteitag und Bundesvorstand der Grünen haben beschlossen, daß sie das Gesetz zur Internetsperrung ablehnen.
Ein Grund für die Ablehnung war stets, daß der Aufbau einer Sperrinfrastruktur bei den Internet-Zugangs-Anbietern die Gefahr begründet, daß künfig auch andere mißliebige und angeblich strafbare Seiten gesperrt werden. Das käme einer Inhaltszensur gleich, die das Grundgesetz verbietet.
Es trifft somit nicht zu, daß die Grünen nicht mehr für Bürgerrechte und gegen Zensur sind. Wir haben auch keine gute Miene zum bösen Spiel gemacht und keine faulen Kompromisse.
Sie können also weiterhin grün wählen.

Der Kollege Tauss hat angegeben, daß er seine Partei, die SPD, verläßt, weil die SPD-Fraktion im Bundestag dem Gesetzentwurf zur Internetsperrung zugestimmt hat. Ich war auf der Demonstration anwesend, als er dies vor der SPD-Zentrale in Berlin in einer Rede mitgeteilt hat. Das Abstimmungsverhalten der SPD zur Internetsperrung ist somit völlig und entgegengesetzt anders als das der Grünen.

Die Auffassung der Piratenpartei zur Internetsperrung und zur Vorratsdatenspeicherung teile ich weitgehend. Deshalb habe ich und auch die Grünen gegen die Vorratsdatenspeicherung lange vor dem Entstehen dieser Partei demonstriert, im Bundestag gegen das Gesetz gestimmt und Organklage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.
Ein Position der Piratenpartei zu allen anderen wesentlichen Fragen wie Klimakastrophe, AKWs, Außenpolitik, z.B. zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan, Finanzkrise, Hartz-VI-Regelung oder Mindestlohn kenne ich nicht. Deshalb kann ich eine Auffassung dazu auch nicht bilden.
Darin besteht übrigens ein entscheidender Unterschied der Piratenpartei zur Grünen Partei in der Gründungsphase und deren Vorgänger, den Alternativen Listen, daß Die Grünen von Anfang zu den fast allen Bereichen der Politik Position bezogen haben. Schon die ersten Wahlprogramme enthielten umfassende Politikentwürfe und Antworten für die meisten Politikbereiche, wenn auch die Themen Ökologie, Umweltschutz und die Ablehnung der AKWs das Neue waren und hervorgehoben wurden.
Ansonsten sehe ich durchaus, daß die Piratenpartei wichtige Diskussionen vor allem rund um die Internetnutzung und die Bürgerrechte angestoßen und in neue Bevölkerungskreise getragen hat.

Mit freundlichem Gruß
Ströbele