Frage an Harald Leibrecht bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

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Harald Leibrecht
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Frage von Siegfried F. •

Frage an Harald Leibrecht von Siegfried F. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrter Herr Leibrecht,

weshalb ist Ihre Partei für den Kampfeinsatz in Afghanistan, und warum sind Sie nicht freiwillig vor Ort des Geschehens?

MfG
Siegfried Fischer

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Antwort von
FDP

Sehr geehrter Herr Fischer,

der Bundesregierung ist es im vergangenen Jahr in beispielloser Zusammenarbeit der relevanten Ressorts gelungen, einen neuen Ansatz für unser Engagement in Afghanistan zu entwickeln und diesen in die Erarbeitung einer neuen internationalen Afghanistan-Strategie bei der internationalen Konferenz in London erfolgreich einfließen zu lassen. In London wurde eine klare Verschiebung des Schwerpunktes hin zu mehr zivilem Wiederaufbau in Afghanistan sowie der Stärkung der afghanischen Sicherheitskräfte vereinbart. Die internationale Staatengemeinschaft unterstützt die Regierung des afghanischen Präsidenten Karzai, der sich in seiner Antrittsrede zu mehr afghanischer Eigenverantwortung in fünf Schlüsselbereichen selbst verpflichtet hat: wirtschaftliche Entwicklung, Regierungsführung, Reintegration, Kampf gegen Korruption und Klientelismus sowie Sicherheit. Konkret kündigte Präsident Karzai die Übernahme der vollständigen Sicherheitsverantwortung bis 2014 an. Das Ziel der Bundesregierung ist, bis zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass mit einer schrittweisen Rückführung der deutschen militärischen Präsenz begonnen werden kann.

Der Schlüssel für die Befriedung Afghanistans liegt darin, wirtschaftliche und soziale Perspektiven für die afghanische Bevölkerung zu schaffen, um diese gegen eine Radikalisierung durch die Taliban zu immunisieren. Hierzu gehören unter anderem Anstrengungen für einen nachhaltigen Kapazitätsaufbau in der afghanischen Verwaltung und Justiz sowie für die afghanische Zivilbevölkerung. Über einen offenen Politikberatungsfonds sollen dabei zentrale Reformvorhaben der afghanischen Regierung unterstützt werden. Hierfür investiert die Bundesregierung in eine „Entwicklungsoffensive“ in Nordafghanistan. Die Hilfe wird auf die von der afghanischen Regierung als prioritär eingeschätzten Bereichen Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Ausbildung und Kapazitätsaufbau sowie Infrastruktur (Wasser, Transport, Energie) ausgerichtet. Die Bundesregierung hat die jährlichen Mittel für den zivilen Aufbau von 220. Mio Euro auf 430 Mio Euro nahezu verdoppelt.

Ein weiterer unverzichtbarer Punkt für die Stabilisierung Afghanistans ist die Wiedereingliederung von Aufständischen, die weniger aus ideologischen als aus wirtschaftlichen Überlegungen kämpfen. Hierfür wird ein unter gemeinsamer Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und der afghanischen Regierung stehendes Reintegrationsprogramm entwickelt. Den Kern des Programms bildet ein Ausbildungs- und Beschäftigungspaket. Der Fokus liegt hierbei auf der Ausbildung im ländlichen Raum sowie der Beschäftigung als Bau- und Landarbeiter für Infrastrukturprojekte, die den integrationsbereiten Aufständischen eine echte, langfristige Perspektive bieten. Die Bundesregierung wird, falls die Voraussetzungen geschaffen sind, jährlich 50 Mio. Euro zu dem Fonds (Gesamtvolumen: ca.350 Mio. Euro) beitragen. Insgesamt wird die Bundesregierung in die Verlängerung und Veränderung des Mandats bis zum 28.02.2011 circa. 271,5 Mio. Euro investieren.

Auch nach Anpassung der Strategie bleibt die grundsätzliche Begründung für das fortgesetzte Engagement Deutschlands in Afghanistan weiter gültig. Hier sind vier Argumente herauszuheben:

Deutschland hat ein großes Eigeninteresse daran, dass Afghanistan nie wieder zu einem Rückzugsgebiet für international operierende Terrornetzwerke wie Al Qaida wird, wie dies vor dem Sturz der Taliban der Fall war. Die Anschläge vom 11.09.2001 belegen, dass trotz der großen geographischen Distanz zum Hindukusch ein von den Taliban und Al-Qaida dominiertes Afghanistan auch eine erhebliche Bedrohung für Deutschland darstellen würde. Der deutsche Beitrag an ISAF ist daher insbesondere auch als Maßnahme zur Erhöhung der Sicherheit in Deutschland zu betrachten.

Ferner muss die seit dem Sturz der Taliban zu verzeichnende Verbesserung der Menschenrechtssituation in Afghanistan weiter abgesichert werden. Die Schreckensherrschaft der Taliban hatte insbesondere die Verletzung der Rechte von Frauen und Mädchen zur Folge. Seither ist es gelungen, beispielsweise den Zugang von Mädchen zu Schulen deutlich zu verbessern. Ein übereilter Abzug der deutschen und internationalen Truppen würde diese Fortschritte hinsichtlich der Menschenrechtssituation in Afghanistan gefährden.

Überdies wären die regionalen Folgen einer erneuten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan unabsehbar. Nicht nur könnte dies die Lage im benachbarten Nuklearstaat Pakistan destabilisieren. Eine Niederlage der afghanischen Regierung könnte sich auch negativ auf die Situation in den Staaten Zentralasiens auswirken.

Daneben steht Deutschland auch vor seinen Partnern und Verbündeten im Wort, bei der gemeinsamen Aufgabe in Afghanistan einen Beitrag zu leisten. Ein einseitiges Ausscheren würde der internationalen Position Deutschlands schaden und seinen politischen Einfluss auf die weitere Entwicklung in Afghanistan schmälern.

Abschließend möchte ich betonen, dass die Übergabe in Verantwortung an die afghanische Regierung nur durch eine Veränderung und Verstärkung des Engagements der internationalen Staatengemeinschaft und dabei auch Deutschlands erreicht werden kann. Es gibt weder einen bequemen noch einen ungefährlichen Weg zur Stabilisierung Afghanistans.

Sehr geehrter Herr Fischer, ich habe mich während meiner Zeit als Bundestagsabgeordneter bereits zwei Mal persönlich vor Ort von der schwierigen Situation in Afghanistan überzeugt und konnte - nicht zuletzt während meines letzten Besuchs im April 2010 - aber auch sehen, dass Deutschland einen äußerst wichtigen entwicklungsrelevanten Beitrag in Afghanistan leistet.

Mit freundlichen Grüßen,
gez. H. Leibrecht