Frage an Jörg van Essen von Sabine B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Tag Herr van Essen,
vielen Dank für Ihre Antwort vom 02.03.2009.
Ich kann nachvollziehen, dass Sie die im Artikel der Sunday Times vom 08.02.09 „aufgestellten Behauptungen nicht auf ihren möglichen Wahrheitsgehalt verifizieren“ können.
Wie darf ich nun aber Ihre Aussage „Ich bin aber mit Ihnen der Auffassung, dass diesen Behauptungen nachgegangen werden muss.“ werten.
Sehen Sie und Ihre Fraktion sich denn nun in irgendeiner Weise veranlasst, Untersuchungen in die Wege zu leiten und zu forcieren?
Und selbst wenn der Bericht der Sunday Times sich als falsch erweisen sollte, wovon ich nicht ausgehe, war der Contergan-Prozess eine Übervorteilung der Betroffenen und sollte dringend neu aufgerollt werden!
Haben Sie sich schon einmal ernsthaft Gedanken über den Conterganprozess und dessen Ausgang gemacht?
Kann ein unter Druck in einer Notlage und zu Ungunsten Minderjähriger geschlossener Vergleich tatsächlich Bestand haben?
Welche Vergleiche zu anderen geltenden Gesetzen (z.B. Behandlung des Unterhaltsverzichtes im Scheidungsrecht) müssen denn noch herangezogen werden, damit alle Fraktionen endlich die Sittenwidrigkeit der Gerichtsentscheidung zum Fall Contergan im Jahre 1970 und der damals unter enormem Druck erzielten Vergleiche zwischen den Eltern der Conterganopfer und der Fa. Grünenthal einräumen und den Conterganprozess neu aufrollen lassen?
Erscheinen Ihnen unter diesem Aspekt die Conterganopfer nicht auch als „Verbrechensopfer“, die dringend ausreichende Unterstützung benötigen, die ihnen eine selbstbestimmtes Leben, ohne drohende Altersarmut, sowie eine möglichst uneingeschränkte Teilhabe am Leben, gestattet?
Selbst ohne „zweitweltkriegliche“ Vorgeschichte von Contergan ist die Behandlung der seiner Opfer und ihrer Familien dringend prüfenswert.
Im Voraus vielen Dank für Ihre Antwort,
mit freundlichen Grüßen,
Sabine Bentler
Sehr geehrte Frau Bentler!
Eine Bundestagsfraktion hat weder die Möglichkeit noch die Aufgabe historische Forschung zu betreiben. Eine solche Aufarbeitung ist Sache der Historiker. Mittlerweile gehen Medienberichte davon aus, dass die zugrundeliegenden Unterstellungen der Sunday Times nicht zutreffend sind.
Am 22. Januar 2009 hat der Deutsche Bundestag einem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP zur Sicherstellung einer angemessenen und zukunftsorientierten Unterstützung der contergangeschädigten Menschen zugestimmt (BT-Drucksache 16/11223). Auch in der Rede zu diesem Antrag haben wir betont, dass einige Forderungen der FDP über den gemeinsam mit der Koalition beschlossenen Antrag hinaus gehen, d. h. wir sahen in diesen Punkten keinen Prüfbedarf mehr, sondern hielten sie für umsetzungsreif.
Diese beiden Punke waren die Dynamisierung des Rentenanspruchs und die Streichung des Fristausschlusses. Ich begrüße es daher grundsätzlich, dass sich die Koalition dieser Forderung sehr weitgehend im neuen Conterganstiftungsgesetz angeschlossen hat, allerdings sehen wir noch immer Änderungsbedarf.
- Dynamisierung des Rentenanspruchs
Vor der Erhöhung der Conterganrenten zum 1. Juli 2008 erfolgte die letzte Rentenerhöhung für Contergan-Opfer zum 1. Juli 2004. Diese Zeiträume sind unbefriedigend, da die Inflation die Rentenerhöhung aushöhlt. Die prozentuale jährliche Anpassung der Altersbezüge auf die Conterganrenten zu übertragen, ist ein guter und unbürokratischer Weg der Dynamisierung. Gleichzeitig sollte die Rente aber in geeigneten Zeiträumen (z. B. 5 Jahre) grundlegend überprüft werden, da mit fortschreitendem Alter der Contergangeschädigten auch der Hilfebedarf weiter zunehmen dürfte. Hier hätte die FDP gerne eine Klarstellung im Gesetz.
- Fristausschluß
Bis zum 31.12.1983 mussten Ansprüche bei der "Stiftung Hilfswerk für behinderte Kinder" (2005 in "Contergan-Stiftung für behinderte Menschen" umbenannt) geltend gemacht werden, um einen Anspruch auf Zahlungen zu erhalten. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass diese Frist ausreichend ist. Wir wissen nunmehr alle, dass diese Annahme falsch war. Aus diesem Grund lehnt die FDP es auch ab, dass nun diese alte Frist durch eine neue Frist bis zum 31.12.2010 ersetzt wird. Die FDP hält den Zeitraum für zu kurz, da auch heute noch Betroffene des Conterganskandals "entdeckt" werden, die also die Frist schon deshalb nicht wahrnehmen können, weil sie von ihrer eigenen Betroffenheit nichts wissen. Sinn der durch Gesetz vom 17.12.1971 errichteten Stiftung des öffentlichen Rechts ist es, Individualleistungen für Behinderte, deren Fehlbildungen durch Thalidomid (Contergan®) hervorgerufen wurden, zu erbringen. Wer eindeutig zu dieser Gruppe gehört, muss auch Leistungen nach diesem Gesetz erhalten können. Der vorliegende Gesetzentwurf zum Conterganstiftungsgesetz geht davon aus, dass 60% aller noch zu erwartenden Anträge auf Leistung noch dem Gesetz den Rentenhöchstsatz beziehen werden. Dies zeigt deutlich, wie eindeutig falsch die Frist war und eine neue Frist sein wird. Egal, ob es sich um 100 oder 500 Personen handelt, die aufgrund ihrer Conterganschädigung noch einen Leistungsanspruch hätten, und egal in welchem Umfang es gegebenenfalls Nachzahlungen geben wird. Die FDP ist für die sofortige Streichung der Frist, sowohl der alten wie der neuen. Es ist der einzige vernünftige Weg.
Mit freundlichen Grüßen
Jörg van Essen, MdB