Frage an Johannes Kahrs bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Johannes Kahrs
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Frage von Jan G. •

Frage an Johannes Kahrs von Jan G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Kahrs,

ich habe festgestellt, daß Sie im Bundestag dem
Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, welches der Deutsche Bundestag am 24. April 2008 verabschiedet hat, zugestimmt haben.

Daraus ergeben sich für mich eine Reihe von Fragen, von denen ich eine Entscheidung über mein Wahlverhalten zur nächsten Bundestagswahl maßgeblich abhängig machen werde.

Nach Auffassung von Professor Dr. iur. Karl Albrecht Schachtschneider verstoßen diese Beschlüsse gegen das Grundgesetz, insbesondere gegen Art. 20 Abs. 1 und 2 GG,
gegen Art. 2 Abs. 1 GG und gegen Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG in Verbindung
mit Art. 79 Abs. 3 GG, sowie gegen Art. 23 Abs. 1 GG.

1. Wie stehen SIe dazu, daß der Vertrag von Lissabon die existentielle Staatlichkeit Deutschlands wesentlich einschränkt und dafür die existentielle Staatlichkeit der Europäischen Union in einem solchen Maße weiterentwickelt, daß die Union zu einem (echten) Bundesstaat wird, der freilich der demokratischen Legitimation entbehrt, weil er nicht durch ein europäisches Volk, eine Unionsbürgerschaft, legitimiert ist ?

2. Wie stehen Sie dazu, daß für eine solche Integration Deutschlands die nötige Grundlage nur ein Verfassungsgesetz geben könnte, das das Deutsche Volk sich nach Maßgabe des Art. 146 GG durch Volksabstimmung geben müßte, um seine existentielle Staatlichkeit weitgehend zu beenden oder einzuschränken, damit eine existentielle Staatlichkeit der Union, ein Europäischer Bundesstaat, geschaffen werden kann ?

3. Werden Sie als Bundestagsabgeordneter sich für Volksabstimmungen in Bezug auf EU-Verfassung und andere wichtige Entscheidungen in der Zukunft einsetzen ?

MfG Jan Grünwoldt

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Grünwoldt,

vielen Dank für Ihre Frage und Entschuldigung dafür, dass es mit der Antwort etwas gedauert hat. Das Nein der Iren zum Vertrag von Lissabon und die Verweigerung des Bundespräsidenten, das Zustimmungsgesetz des Deutschen Bundestages zum Vertrag zu unterzeichnen, haben eine neue Situation geschaffen, deren Entwicklung ich zunächst absehen wollte, bevor ich Ihnen zurückschreibe.

Wie viele Bürger sorgen Sie sich in erster Linie um die demokratische Legitimierung des Vertrages von Lissabon und damit auch um die der Europäischen Union insgesamt.

Die demokratische Legitimität der EU ist kompliziert. Sie wird nicht durch eine, sondern mehrere Institutionen getragen bzw. gewährleistet. Die demokratisch gewählten nationalen Parlamente legitimieren und kontrollieren ihre jeweiligen Regierungen in den Ministerräten und im Europäischen Rat. Die direkte Mitwirkung als Gesetzgeber und die Kontrolle von Rat und Kommission erfolgt durch das Europäische Parlament, dessen Abgeordnete ebenfalls demokratisch gewählt sind.

Der Vertrag von Lissabon stärkt die Demokratie in der EU, denn die gleichberechtigten Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments werden durch ihn ausgeweitet. Auch die Kommission wird stärker an das EP gebunden: der Kommissionspräsident soll künftig gemäß Mehrheitsergebnisse der Europawahl vom Rat vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament gewählt werden. Auch ist die gesamte Kommission laut Vertrag dem Votum des Parlamentes unterworfen.

Das Europäische Parlament kann künftig über alle Ausgabenbereiche mitentscheiden. Diese Neuerung ist eine wichtige Stärkung der Demokratie, ist doch das Budgetrecht eine der Säulen parlamentarischer Demokratie. Die bisherige Beschränkung des EP auf die nicht-obligatorischen Ausgaben entfällt.

Darüber hinaus erhalten auch die nationalen Parlamente mehr Einwirkungsmöglichkeiten. Mit einer Subsidiaritätsrüge kann die Regelungskompetenz der EU zu Beginn eines Gesetzgebungsprozesses kritisch überprüft werden. Die Frist für die Subsidiaritätsprüfung durch die nationalen Parlamente wird von sechs auf acht Wochen verlängert. Nach Abschluss eines Gesetzgebungsprozesses können nationale Parlamente gegen die Missachtung der Subsidiarität vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) klagen. Da das Prinzip der Subsidiarität eine Hierarchie von Kompetenzen „von unten her“ definiert, ist die Position der nationalen Parlamente in so einem Verfahren grundsätzlich günstig.

Wenn im Rat der EU zusätzliche Bereiche von der Einstimmigkeit in die Mehrheitsentscheidung übergehen sollen, haben die nationalen Parlamente hier ein Widerspruchsrecht. Bereits ein Nein eines nationalen Parlaments führt endgültig dazu, dass der Übergang blockiert ist. Insofern kann man nicht davon sprechen, dass den einzelnen Mitgliedstaaten ihre Souveränität unwiederbringlich verloren ginge.

Der Vertrag von Lissabon schafft zudem erstmals die Möglichkeit eines europäischen Bürgerbegehrens. Dadurch wird die direkte Demokratie in der EU gestärkt. Einen Bürgerentscheid sieht der Vertrag nicht vor. Eine solche Form der direkten Form der Demokratie ist innerhalb der EU nicht konsensfähig. Auch werfen die Vorschläge dazu ernste Fragen hinsichtlich der praktischen Durchführung auf. Auch in Deutschland sind Volksentscheide auf Bundesebene nur für Neugliederungen der Bundesländer vorgesehen. Der Grundsatz der repräsentativen Demokratie ist sowohl im Vertrag von Lissabon (Art. 10 Abs. 1 EUV) als auch in den nationalen Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten anerkannt, auch wenn es nationale Ausprägungen gibt. Ich möchte nichtsdestotrotz darauf hinweisen, dass die SPD sich in der Vergangenheit wiederholt für die Einführung von Elementen direkter Demokratie (insbesondere auf Landesebene) eingesetzt hat, die Umsetzung aber an CDU gescheitert ist.

Wie Sie in Ihrem Schreiben andeuten, gibt es zum Teil recht unterschiedliche Rechtsmeinungen zum Thema Vertrag von Lissabon. Die vorherrschende Meinung unter Rechtsgelehrten ist aber die, dass der Vertrag mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Schon in den 1950er Jahren wurden in den Zustimmungsgesetzen zu EGKS und EWG anerkannt, dass die entsprechenden Verträge verfassungsähnliche Elemente eigener Art schufen. Materiell ist es seit Jahrzehnten so, dass sich die Europäische Gemeinschaft bzw. die Europäische Union in den ihnen zugrundeliegenden Verträgen eine Art Verfassung gegeben haben: das zeigt sich in der Verankerung der Menschen- und Bürgerrechte, der Abgrenzung der Kompetenzen und im Vorrang europäischen vor nationalem Recht.

Mit freundlichen Grüßen,

Johannes Kahrs