Frage an Memet Kilic bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Memet Kilic
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Michael H. •

Frage an Memet Kilic von Michael H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Kilic,

vor einiger Zeit wurde in der ARD eine Reportage über den verheerenden Zustand von sogenannten "Restdeutschen" Schülern an Hauptschulen in NRW gesendet, welche in schockierenderweise unter einem offensichtlich vorsätzlichen Verzicht jeglichen Integrationswillens seitens der muslimischen Mehrheit zu leiden haben.

"Manchmal werden sie verhöhnt, manchmal geschlagen. Mit ihnen wird in der Klasse kaum geredet, sie ziehen sich zurück, sagen kaum noch ihre Meinung - kurz, sie sind nicht integriert: Deutsche Kinder an einer Hauptschule in Essen."

"Die Kinder mit Migrationshintergrund haben hier eindeutig das Sagen", so die Direktorin der Schule. "Red nicht mit der, das ist bloß eine deutsche Schlampe", so hören es auch die Lehrerinnen. "Wenn Ramadan ist, ist Ausnahmezustand. Es ging soweit, dass sie uns ins Essen gespuckt haben", berichtet die Hauswirtschaftslehrerin. "Man sagt immer, dass die Ausländer diskriminiert werden, aber hier läuft es andersrum. Ein libanesischer Arabisch-Lehrer schildert, dass die deutsche Lebensart von seinen Schülern ganz offen abgelehnt würde, diese Einstellung sei fast schick. Julia ist mit dem streng gläubigen Saleh aus Palästina befreundet. Die Schülerin bezeichnet sich inzwischen selbst als Muslima, das bedeutet für sie: keine Partys, kein Alkohol, kein Sex. Die Lehrer versuchen, auf die Situation mit dem Bestehen auf deutschen Regeln zu reagieren, aber auch mit muttersprachlichem Unterricht und Verständnis für die Libanesen. Die Autorin Güner Balci zeigt das Verstehen und Nichtverstehen in einer Klasse, die inzwischen nicht nur für das Ruhrgebiet typisch geworden ist.

programm.ard.de

Meine Frage: Sind Ihnen diese Zustände bewußt?
Sehen Sie gesellschaftliche Folgewirkungen? Wenn ja, welche?
Was gedenkt die Fraktion der Grünen dagegen zu unternehmen?

Mit freundlichen Grüßen

Michael Hoffmann

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Hoffmann,

vielen Dank für Ihre Fragen und Ihr Interesse an grüner Integrationspolitik!

Die Verhältnisse in der dargestellten Schule sind alarmierend und nicht hinnehmbar. Schulen haben einen besonders großen Einfluss auf die Zusammensetzung der zukünftigen Gesellschaft, können jedoch nicht ihre Reparaturwerkstatt sein. Daher dürfen die Schulen in solchen schwierigen Situationen nicht alleingelassen werden, sondern verdienen eine vielseitige Unterstützung.

Es ist nicht akzeptabel, dass die Jugendlichen, die in Deutschland aufgewachsen sind, die Lebensverhältnisse von Deutschen fundamental in Frage stellen. Respekt ist keine Einbahnstraße, sondern muss von beiden Seiten aus gehen. Wir Grünen verstehen uns als eine Antidiskriminierungspartei. Wir nehmen keine Diskriminierung hin, gleichgültig welche Herkunft das Opfer hat.

Selbstverständlich muss man sowohl die Ursachen als auch die Erscheinungsformen der Kriminalität bekämpfen. Unser Jugendstrafgesetz ist ein sehr gutes und geprüftes Werk. Die Anwendungspraxis muss jedoch optimiert werden, darin sind sich die Experten einig.

Die von der ARD ausgestrahlte Dokumentation spiegelt nicht die Atmosphäre an allen Hauptschulen in Deutschland wider, wohl aber die negativen Effekte dieses Schulsystems.

Uns ist bekannt, dass überdurchschnittlich viele Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund in die Hauptschulen aussortiert werden. In vielen Berichten, wie auch in der Studie von Gomolla und Radtke (Institutionelle Diskriminierung, 2009), wird dargestellt, wie aus Vorbereitungsklassen separate Regelklassen für ausländische Schüler/-innen entstehen. Somit wird segregiert, statt integriert. Die PISA-Studie der OECD, die IGLU-Studie sowie das Konsortium Bildungsberichterstattung haben in ihren Berichten aufgezeigt, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund bei gleicher Leistung wie einheimische Kinder oft eine schlechtere Benotung bekommen. Auch aus diesem Grund endet die Schullaufbahn von Kindern mit Migrationshintergrund häufig in der Hauptschule.

Diverse Studien weisen seit Jahren einen direkten Zusammenhang nach zwischen demographischen Faktoren und dem Schulerfolg von sozial Schwächeren, insbesondere von Kindern mit Migrationshintergrund,. So weist auch der Bildungsbericht 2006 der Bundesregierung, darauf hin, dass diese Übergangsentscheidungen von spezifischen Interessen der beteiligten Bildungseinrichtungen mit beeinflusst werden, z. B. von der Über- oder Unterlastung einer Grundschule oder dem Wunsch, einen Schulstandort zu erhalten. Weiter zeigen die Studien, dass der Ausländeranteil auf Hauptschulen zunimmt, sobald der Anteil deutscher Schüler/-innen demographisch bedingt abnimmt. Ebenso sieht es in Realschulen und Gymnasien aus: der Anteil ausländischer Schüler/-innen, denen ein Aufstieg in die Realschule oder das Gymnasium gelingt, nimmt zu, wenn die absolute Zahl der deutschen Schüler/-innen abnimmt.

Zugewanderte Kinder werden in Deutschland, ungeachtet ihrer bisherigen Schullaufbahn in die Grund- bzw. Hauptschule eingegliedert, da nur dort besondere Sprachförderung angeboten wird.. Finanzielle Mittel für die zusätzliche Förderung erhalten Realschulen und Gymnasien nicht. Dies alles führt dazu, dass der Anteil von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund in Hauptschulen sehr hoch ist und einheimische Kinder zur Minderheit werden. In einigen Hauptschulen müssen leider die einheimischen Kinder die Erfahrung machen, die sonst ausländische Kinder als Minderheiten erfahren. Diese Schieflage muss durch die Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems ausgeglichen werden.

Viele Lehrer/-innen kommen mit solchen Situationen, wie in der Dokumentation dargestellt, nicht zurecht, oft fehlt ihnen die nötige interkulturelle Kompetenz. Leider wird den zukünftigen Lehrer/-innen während ihrer Ausbildung kaum interkulturelle Pädagogik gelehrt. Wenn sie die Kultur ihrer Mitbürger/-innen besser kennen, haben sie eine bessere Diskussionsbasis und können überzeugender argumentieren. Bedauerlicherweise gibt es noch zu wenig Lehrer/-innen mit Migrationshintergrund, die auch einen besseren Kontakt zu den Familien mit Migrationshintergrund herstellen können.

Bei allen Jugendlichen in Deutschland, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, findet die Sozialisation in Deutschland statt. Sie lernen alle Normen und Werte hier vor Ort. Dabei sind nicht nur die Familien gefordert, sondern das gesamte Umfeld.

Rechtsextremismus gibt es sowohl bei Einheimischen, als auch bei Migranten. Für ein gemeinsames Miteinander müssen Vorurteile und somit der Nährboden für Rechtsextremismus abgebaut werden.

Integration muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden. Die deutsche Elf ist ein gelungenes Beispiel für Integration: Menschen mit Wurzeln aus unterschiedlichen Ländern dieser Erde kämpfen sportlich für unser Land. Sie arbeiten gemeinsam mit unterschiedlichen Fähigkeiten und respektieren sich gegenseitig. Unsere Mannschaft zeigt Folgendes: Wir müssen uns alle bemühen, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen, nämlich ein besseres Deutschland in einer friedlichen Welt. Wir können unsere kleinen Reibereien in dem Geist bewältigen, dass wir eine Mannschaft sind. Wir kommen insgesamt besser voran, indem wir die Spielregeln akzeptieren. So können wir die Integration effektiver gestalten. Die Spielregeln sind unser Grundgesetz und unsere Gesetze, in denen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung verankert ist. Daher sollten wir uns mit der Einstellung einer Nationalmannschaft die Probleme bewältigen. Wir können nur dann gewinnen, wenn wir uns gegenseitig unterstützen und fördern.

Wir Grünen werden weiterhin für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft kämpfen.

Gern stehe ich Ihnen für weitere Fragen zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Memet Kilic