Frage an Tom Koenigs bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

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Tom Koenigs
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Frage von Alfons S. •

Frage an Tom Koenigs von Alfons S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrter Herr Koenigs,

Ich einem Heute-Beitrag (ZDF) vor ein paar Tagen haben sie sich dafür ausgesprochen Asylsuchende nicht in die Länder abzuschieben, in denen sie zuerst eingetroffen sind, sondern hier zu behalten. Ihre Begründung war, das z.B. diese Personen während der Reise von Italien nach Deutschland zum Teil "furchtbares durchgemacht" haben.

Quelle:
http://www.youtube.com/watch?v=rmlsp6BhvCU

Ich war bereits mehrmals in Italien und bin mit dem Flugzeug, aber auch mit dem Bus nach Italien gefahren und habe dabei nichts "furchtbares" erlebt. Auf welche furchtbaren Gefahren kann man den während einer Italien-Reise stoßen?

Meine zweite Frage bezieht sich auf eine EU-Regelung, die besagt, das man Asylsuchende in die Länder abschieben darf, in denen sie zuerst eingetroffen sind: Der Grund für diese Regelung war, das die EU-Länder unterschiedliche finanzielle Hilfen für Asylsuchende bereitstellen und dadurch die Migrationsströme in die reicheren bzw. sozialeren Länder verstärkt werden. Sind sich dieser Tatsache bewusst und können sie sich vorstellen, das ihre Weigerung diese EU-Regelung zu akzeptieren insbesondere für Deutschland in höchstem Maße unvorteilhaft ist?

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Schienmann,

vielen Dank für Ihre Frage. Es freut mich zu hören, dass Sie einen schönen Urlaub in Italien verbracht und nichts "Furchtbares" erlebt haben. Leider sind mir Einzelschicksale von Flüchtlingen, insbesondere unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, bekannt, die zum Teil Traumatisches innerhalb Europas erlebt haben. Sicherlich können wir uns - Deutsche, Europäer - kaum vorstellen, welche lebensgefährlichen Risiken und Strapazen Flüchtlinge auf sich nehmen, um vor Verfolgung, Konflikten und Gewalt zu fliehen. Im letzten Jahr sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes allein 1.500 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken ( http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=41084&Cr=refugees&Cr1= ). Einen Vergleich mit Ihrer Reise nach Italien mit dem Flugzeug oder dem Bus zu ziehen, ist daher mehr als unangebracht.

Außerdem möchte ich Sie auf die Grundsatzurteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) vom 21. Januar 2011 und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 21. Dezember 2011 aufmerksam machen. Die Urteile stellen klar, dass Asylsuchende nicht in einen anderen EU-Staat überstellt werden dürfen, wenn die Gefahr besteht, dort einer menschenunwürdigen Behandlung ausgesetzt zu sein. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein EU-Staat nicht "blind" in andere EU-Mitgliedstaaten abschieben darf, sondern erst sichergehen muss, dass die Menschenrechte des Asylsuchenden in diesem Staat gewahrt werden.

Der EGMR hat daher Belgien am 21. Januar 2011 dafür verurteilt, einen Flüchtling nach Griechenland abgeschoben zu haben, obwohl bekannt war, dass die Situation in den griechischen Flüchtlingslagern menschenunwürdig ist. Ich bin selbst im November 2010 nach Griechenland gereist, um mir ein persönliches Bild von der Lage vor Ort zu machen. Meinen Reisebericht finden Sie hier: http://www.tomkoenigs.de/cms/default/dokbin/362/362693.griechenland_november_2010.pdf

Die Bedingungen in den Haftanstalten und Aufnahmelagern sind menschenunwürdig und verletzen alle menschenrechtlichen Standards. Die Haftanstalten sind hoffnungslos überfüllt und befinden sich in einem desolaten hygienischen Zustand. Besonders erschütternd war, dass während meines Besuches 120-130 Kinder inhaftiert gewesen sind. Das widerspricht Artikel 2 der UN-Kinderrechtskonvention, nach der Kinder in einer freien Umgebung aufwachsen sollen.
Es ist unangemessen die Situation in diesen Flüchtlingslagern mit einem Hotelaufenthalt zu vergleichen.

Auch die Überstellung von Asylsuchenden nach Italien wirft menschenrechtliche Fragen auf. Der EGMR hat am 19. Oktober 2011 die Abschiebung eines Asylbewerbers von Deutschland nach Italien vorläufig gestoppt. Der Kläger macht geltend, dass das italischen Asylsystem überlastet ist und ihm in Italien Obdachlosigkeit droht.

Die Urteile des EGMR und des EuGH weisen eklatante Defizite in der europäischen Flüchtlingspolitik auf. Die Bundesregierung muss ihre Blockadehaltung beim europäischen Flüchtlingsschutz endlich aufgeben. Schutzsuchende Flüchtlinge haben ein Recht auf ein faires Asylverfahren. Europa braucht eine Flüchtlingspolitik, die auf Solidarität und nicht auf Abschottung beruht.

Ihr Tom Koenigs