Frage an Anette Kramme bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Anette Kramme
SPD
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Frage von Wilfried M. •

Frage an Anette Kramme von Wilfried M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Kramme,

wie ich hörte, wird von der Großen Koalition nun auch noch eine Änderung des Art. 6 (2) GG ins Auge gefaßt.

Er soll künftig womöglich lauten:

"Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, gewaltfreie Erziehung und auf besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen."

Hierzu meine Fragen:

Wissen auch Sie von den angedachten Änderungen?

Welche gesellschaftlichen oder anderen Kräfte stehen dahinter?

Wer wird denn künftig definieren, was genau z.B. "Enwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit", "Schutz vor Venachlässigung" und "kindgerechte Lebensbedingungen" bedeutet?

Können Sie sich - wie ich mir - vorstellen, daß diese doch tiefgreifenden GG- Änderungen den schon etablierten Psychokonzernen und den im Aufbau begriffenen Erziehungs- NGOs immense Umsatzsteigerungen bescheren würden?

Sehen Sie durch die neuen Formulierungen den Elternvorrang noch gewahrt oder - wie ich - eine (privat)staatliche ´Erziehungsdiktatur heraufziehen?

Mit freundlichen Grüßen
W. Meißner

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Meißner,

vielen Dank für Ihre Zuschrift vom 15.10.2007.

Sie stellen richtig fest, dass die SPD eine Grundgesetzänderung zur Stärkung des Kindeswohles plant und befürwortet. Dieser Vorstoß wird von einem breiten Bündnis aus Politik, Gesellschaft und Verbänden getragen, namentlich dem Kinderschutzbund, UNICEF, Deutsches Kinderhilfswerk, Bayerischer Elternverband, AWO, Paritätischer Wohlfahrtsverband, etc. Auch Unionspolitiker wie Annegret Kramp-Karrenbauer (Ministerin für Bildung, Familie, Frauen und Kultur in Saarland) oder Michaela Noll unterstützen das Anliegen.

Ausgangspunkt der Debatte in Deutschland waren Art. 24 der EU-Grundrechte-Charta und insbesondere die UN Kinderrechtskonvention, die diverse Rechte von Kindern formuliert und in Art. 4 den Staat auffordert, "alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen".

Nach meinem Dafürhalten zählt dazu auch die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung. Vergangene Woche wurde in der SPD-Fraktion dazu ein entsprechender Beschluss gefasst. Angedacht ist eine Änderung des Art. 6 GG, der künftig lauten soll:

"Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und auf den besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen".

Welche praktischen Folgen für Kinder, Eltern und Staat sich aus einer solchen Änderung ergeben, hängt vom genauen Wortlaut ab. Obiges Zitat stellt einen Beschluss der SPD-Fraktion dar. Die CDU betont zwar die Bedeutung von Kinderrechten, zögert aber bei der Übernahme der konkreten Formulierung. Es ist davon auszugehen, dass Änderungen am Wortlaut seitens des Koalitionspartners angestrebt werden.

Nachfolgend kann ich deshalb zum jetzigen Zeitpunkt nur grob umreißen, aus welchen Gründen die SPD die Aufnahme von Kinderrechten in Art. 6 GG befürwortet. Wir Sozialdemokraten sind von dem symbolischen und sachpolitischem Wert einer solchen Initiative überzeugt. Auf der sachpolitischen Ebene kommt der Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz aus drei Gründen Bedeutung zu.

Erstens werden Kinder erstmals explizit Träger von Rechten, statt immer nur ,mitgedacht´ zu werden bei allgemeinen Erwägungen in Art. 1 und Art. 2 GG. Das Elternrecht hingegen ist in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 verfassungsmäßig garantiert. Aus Art. 6 Abs. 3 ergibt sich bisher die Eingriffsnotwendigkeit des Staates nur dann, wenn Erziehungsberechtigte versagen oder Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. In der Praxis kann jedoch das Kindeswohl bereits tangiert sein, wenn keine akute Gefährdung vorliegt. In der bisherigen Fassung des Grundgesetzes sind die Rechte der Kinder deshalb nach meinem Dafürhalten gegenüber der Institutsgarantie der Elternrechte benachteiligt.

Das heißt jedoch -- um Ihre Bedenken gegenüber einer staatlichen Bevormundung der elterlichen Sorge aufzugreifen -- nicht, dass Eltern in ihrem Erziehungsauftrag beschränkt werden. Vielmehr soll durch die Grundgesetzänderung deutlicher als bisher klargestellt werden, dass Kinder einen besonderen Schutz benötigen, der uns alle verpflichtet und eine Abwägung zwischen Eltern- und Kinderrechten erfordert.

Zweitens wäre der Staat bei einer Verankerung des Rechts auf Förderung und Schutz des Kindes künftig nicht nur aufgerufen, sondern verpflichtet, diesen Anspruch einzulösen. Die Grundgesetzänderung würde dazu führen, dass wir die Bedürfnisse von Kindern bei allen politischen Entscheidungen stärker berücksichtigen müssten (z.B. im Baurecht beim Bau von Kindergärten, Kinderkrankenhäusern etc.). Gesetze, die dem Wohl der Kinder entgegenstehen, könnten Objekt einer Verfassungsklage werden. Der Staat wird damit nicht zum Vormund der Kinder, sondern könnte seine Wächterfunktion besser wahrnehmen.

Drittens erhalten Kinder durch eine Verankerung ihrer Rechte eine stärkere Stellung in gerichtlichen und behördlichen Angelegenheiten, erweiterte Partizipationsrechte etc. Wie weit diese Rechte gehen würden, hängt von der exakten Formulierung des angestrebten Art. 6 GG ab.

Darüber hinaus wird auf einer eher symbolischen Ebene darauf gehofft, dass die Grundgesetzänderung die Kinderfreundlichkeit in Deutschland positiv beeinflusst bzw. die gesellschaftliche Sensibilität gegenüber jeglicher Form der Missachtung des Kindeswohls stärkt. Nicht nur die mediale Debatte um den Änderungsvorstoß hat eine breite gesellschaftliche Resonanz ausgelöst. Auch die öffentlich beklagten Fälle von Kindesmissbrauch und --vernachlässigung berühren die gesamte Gesellschaft.

Heute werden die Definition von und die Verantwortung für Kindeswohl de facto von der Zivilgesellschaft übernommen. Wenn ein Kind gesundheitliche oder sprachliche Auffälligkeiten zeigt, erhält das Jugendamt meist Hinweise von Nachbarn, Hausärzten oder Kinderkrippen. Dann kann es aktiv werden und mit entsprechenden Maßnahmen gegensteuern. Es steht zu hoffen, dass die angestrebte Grundgesetzänderung die öffentliche Aufmerksamkeit weiter stärkt.

Sehr geehrter Herr Meissner,

bei der geplanten Grundgesetzänderung steht das Wohl des Kindes im Vordergrund. Welche anderen gesellschaftlichen Gruppen und Verbände aus einer solchen Änderung ihren Nutzen ziehen könnten, wäre an dieser Stelle Spekulation. Doch selbst wenn einige davon finanziell profitieren, darf dies für uns kein Grund sein, uns im Kampf für einen besseren Schutz der Kinder aufhalten zu lassen.

Ich hoffe, dass meine Antwort Ihnen weiterhelfen konnte.

Mit freundlichen Grüßen,

MdB Anette Kramme

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