Frage an Claudia Roth von Jenny M. bezüglich Familie
Sehr geehrte Claudia Roth!
Das Aachener Landgericht hat in seinem Schlussbericht zum Conterganprozess vom Dezember 1970 die Bundesregierung kritisiert. Sie habe die letzte Verantwortung dafür, dass die schwerwiegenden Probleme der Arzneimittelkontrolle nicht in Angriff genommen wurden, was unter anderem zur Folge hatte, dass tausende contergangeschädigter Kinder zur Welt kamen.
Das 1. AMG in der Bundesrepublik von 1961 war eine Farce ebenso die auf die Contergan-Ereignisse Bezug nehmende erste Novellierung von 1964. Erst 1978 trat in der BRD, Pharmaexportland Nr. 1, das 2. AMG in Kraft, das erstmalig in der bundesdeutschen Gesundheitsgeschichte den Nachweis auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit eines Medikamentes forderte und Regeln für eine Risikoüberwachung des Arzneimittelmarktes einführte. Die Aufsichtsbehörden sowie die Politik haben hier leider allzu offensichtlich versagt.
Meine Frage hierzu: Werden Sie sich persönlich für eine Entschädigung der Conterganopfer einsetzen, die den Betroffenen ein Leben in Würde ermöglicht?
Sehr geehrte Frau Müller,
Seit Juli 2012 liegen die vorläufigen Ergebnisse der Studie „Wiederholt durchzuführende Befragungen zu Problemen, speziellen Bedarfen und Versorgungsdefiziten von contergangeschädigten Menschen“ der Universität Heidelberg vor. Diese vorliegenden Ergebnisse sind zwar erst vorläufig, dafür aber umso deutlicher: Ungedeckte Bedarfe belasten Contergangeschädigte in einem Ausmaß, das fast nicht vorstellbar ist, wenn man nicht täglich damit lebt. Fast 85 Prozent der Befragten leiden an Schmerzen, ihre Bedarfe an Medikamenten, Hilfsmitteln, rehabilitativen Maßnahmen und physikalischer Therapie sind in großen Teilen nicht gedeckt. Nur wenige sind finanziell in der Lage, sie in Eigenleistung zu finanzieren. Der Bedarf an Assistenz im Alltag wird zunehmen, er ist bereits jetzt nicht ausreichend gedeckt. Ein bemerkenswerter Teil der Geschädigten kann aufgrund der Schädigung und mangelnder Versorgung nicht mehr arbeiten, entsprechend bestehen Verdienstausfälle.
Für die Politik bedeutet das: Sie muss handeln, und zwar ohne Zeitverlust. Die Betroffenen werden immer älter, ihre Schmerzen nehmen zu. Ihre Bedarfe werden steigen.
Auch die Koalitionsfraktionen scheinen aus diesen Ergebnissen Konsequenzen ziehen zu wollen und streben einen interfraktionellen Dialog an. Bisher muss man sagen, dass allerdings recht wenig passiert ist. Die Fraktionen loten zunächst intern aus, wie sie sich inhaltlich positionieren möchten. Die Bundestagfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat sich entschieden, keinen eigenen Antrag zum Thema Contergan einzubringen, sondern den interfraktionellen Dialog abzuwarten und dort auch die Forderungen der Geschädigten einzubringen. Wir gehen davon aus, dass es die Koalition ernst meint mit ihrer Aussage, noch in dieser Legislaturperiode eine Erhöhung der Renten zu erwirken.
Der Antrag der Linksfraktion wurde am 25. Oktober in erster Lesung im Bundestag behandelt. Die Ausschussberatungen und abschließende Lesung stehen noch bevor. Darüber hinaus fand im Februar diesen Jahres eine Anhörung zu diesem Thema statt. Erst nach der Anhörung und der daran anschließenden Diskussion mit den anderen Fraktionen wollten wir entscheiden, wie wir uns im Bundestag zum Antrag der Linksfraktion positionieren. . Zweifellos greift die Linksfraktion darin die Anliegen und Forderungen der Betroffenen auf. Das begrüßen wir, auch wir stehen regelmäßig im Kontakt mit verschiedenen Interessenverbänden Contergangeschädigter. In strategischer Hinsicht bewerten wir den Antrag allerdings kritisch. Angesichts von Forderungen wie zum Beispiel der, dass 30 Prozent des Jahresgewinns des Unternehmens Grünenthal an die Conterganstiftung abgeführt werden sollen, ist eine Ablehnung des Antrags durch die Koalitionsfraktionen absehbar. Das hilft den Betroffenen nicht weiter. Wir machen uns seit vielen Jahren engagiert dafür stark, dass contergangeschädigte Menschen endlich angemessen entschädigt werden. Um dies zu erreichen und dabei auch die Vorstellungen der Betroffenen einbringen zu können, scheint uns eine Verständigung aller Fraktionen strategisch sinnvoller.
Wir möchten den Schadensausgleich zügig verbessern und regelmäßig überprüfen. So ist es beispielsweise bereits jetzt möglich und notwendig, Renten für die Betroffenen zu erhöhen. Auch die Firma Grünenthal sollte sich an der Finanzierung des Schadenausgleichs beteiligen. Sie ist dazu rechtlich leider nicht verpflichtet, steht aber selbstverständlich in einer moralischen Verpflichtung. Über eine zügige Erhöhung der Renten hinaus müssen wir weiter darüber sprechen, in welcher Höhe den Geschädigten eine finanzielle Kompensation für den Verlust an Lebensqualität geleistet werden kann. Wir machen uns für eine solche Kompensation stark. Wir gehen davon aus, dass diese inhaltlich gerechtfertigte Forderung gegenüber den Koalitionsfraktionen in dieser Legislaturperiode nicht durchsetzbar sein wird. Wie hoch eine solche zusätzliche Zahlung ausfallen sollte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Wir müssen hier aber zu einer Lösung kommen. Den Ärger der Betroffenen darüber, wie lange nichts oder zu wenig getan wurde, können wir gut nachvollziehen. Deshalb muss der Deutsche Bundestag nun zügig einen Beschluss fassen, der Ihnen ein Leben in Würde ermöglicht. Dafür setzen wir uns weiterhin ein.
Nach der oben erwähnten Anhörung im Februar 2013 wurde im März im Bundestag über einen Gesetzentwurf debattiert, den die Koalitionsfraktionen gemeinsam mit der SPD zur Verbesserung der Situation contergangeschädigter Menschen eingebracht haben. Der zur Debatte vorliegende Gesetzentwurf stellt jedoch nicht sicher, dass die Leistungen zukünftig transparent und unter angemessener Beteiligung der Geschädigten vergeben werden. Wir gehen nicht davon aus, dass der Gesetzentwurf in seiner jetzigen Form geeignet ist, dauerhaft Rechtsfrieden herzustellen. In den parlamentarischen Verhandlungen werden wir uns dafür einsetzen, den Gesetzentwurf in dieser Hinsicht zu ergänzen.
Mit freundlichen Grüßen
Das Mitarbeiter-Team von Claudia Roth