Frage an Claudia Roth bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Claudia Roth
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Özlem K. •

Frage an Claudia Roth von Özlem K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Roth,

vor einiger Zeit forderten Sie – wenn ich mich recht erinnere – „Respekt vor dem Islam“.
Ich nehme an, dass Sie mir darin zustimmen werden, dass dieser Respekt keine Einbahnstraße sein kann.

Meine Frage daher: Was tun SIE persönlich und was tut Ihre Partei, um dafür zu sorgen, dass Muslime ihrerseits die grundlegenden Werte unserer Verfassung respektieren? Haben Sie z.B. schon mal einen Kindergarten oder eine Grundschule besucht und Mädchen mit muslimischem Hintergrund erklärt, dass sie genauso viel wert sind wie Jungen und später einmal SELBST entscheiden sollten, wen sie heiraten? Oder dass auch SIE ein Recht auf Bildung haben und ihnen die Teilnahme am Sport- und speziell Schwimmunterricht nicht untersagt werden darf, während ihr Brüderlein selbstverständlich mitmachen darf?

Oder überlassen Sie solche Aufgaben lieber lobenswerten Aktivistinnen wie Serap Cileli (bzw. gilt es womöglich als unfein in grünen Kreisen, die Unterordnung von Mädchen und Frauen muslimischen Milieu zu kritisieren, da es sich hierbei um eine schützenswerte multikulturelle „Bereicherung“ handelt)?

Auf eine Antwort freut sich
Özlem Kandemir-Müller
(die sich von Ihrem repressiven familiären Umfeld selbst befreien konnte – wohingegen viele Hilfe von außen, aus der Mehrheitsgesellschaft bräuchten!)

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Kandemir-Müller,

haben Sie vielen Dank für Ihre Fragen und für das Interesse am Thema. Im Namen von Frau Claudia Roth würde ich mit folgendem Hinweis auf Ihre Fragen eingehen wollen:

Sie können sicherlich nicht alle öffentlichen Termine und Veranstaltungen von und mit Frau Roth verfolgen, geschweige denn, daran teilzunehmen. Kindergärten, Schulen, Frauenhäuser, Sportvereine mit einem großen Migrantenanteil und auch Moscheen hat Frau Roth immer wieder besucht und sich nicht nur in direkten Gesprächen mit den Menschen über Probleme und Schwierigkeiten vor Ort und im Integrationsbereich informiert, sondern klar und ohne gehobenen Zeigefinger für die Grundwerte unserer Demokratie und Grundsätze einer emanzipatorischen und selbstbestimmten Politik geworben. Überall, wo die Grünen an der Landes- oder Kommunalebene mitentscheiden konnten, wurde dieser Ansatz im Bildungs-, Sozial- und Integrationsbereich umgesetzt. Dies ist geschehen und geschieht immer noch sehr sachlich und weit weg von der zum Teil heuchlerisch geführten Integrationsdebatte.

Der integrationspolitische Ansatz der Grünen weist Ähnlichkeiten mit der zurzeit hochgradig aktuellen Klimadebatte auf. Es wurde von der politischen Konkurrenz so lange verschwiegen bis die Probleme nicht mehr zu übersehen waren. Die Grünen und persönlich Claudia Roth haben immer wieder eine klare und transparente Einwanderungs- und Integrationspolitik gefordert und sich dafür stark gemacht. In einer Zeit, in der die meisten politischen Parteien in Deutschland die alltäglichen Integrationsdefizite und fehlende politische Ansätze verdrängt und verschwiegen haben, waren es die Grünen, die sich dem Thema gestellt haben, die offen über Rechte und Pflichten von Einwanderern und Flüchtlingen geredet, und dafür viel Häme und Spott geerntet haben. Die vielfach gespottete und lächerlich gemachte „Multikulti-Debatte“ ist ein Beleg dafür, dass die Grünen die einzige politische Kraft waren, die das Thema Multikulturalität in unserer Gesellschaft in die politische Debatte haben mit einfließen lassen. Nach dem Motto: Wir leben nun in einer Gesellschaft mit mehreren Kulturen, deren Zusammenleben und –wirken demokratisch zu gestaltet ist. Die demokratische Gestaltung der multikulturellen Gesellschaft bleibt weiterhin auf der Agenda der deutschen Politik. Mit Leugnen und Negieren können keine Fortschritte erzielt werden. Es waren die Grünen, die die anderen Parteien erst nach langjährigen Debatten überzeugen konnten, Deutschland als Einwanderungsland anzuerkennen. Die logische Folge dieser Einsicht wäre gewesen, mit aller Kraft an einem zukunftsfähigen und lösungsorientierten Integrationskonzept für Einwanderer verschiedener Generationen und Kulturkreise zu arbeiten. Hierbei wird aber aus innenpolitischen Gründen leider nicht immer ehrlich agiert. Manche Landtagswahlen auf dem Rücken von nicht-wahlberechtigten Menschen zu gewinnen, ist für einige Ppolitiker immer noch einfacher und lukrativer als eine zukunftsfähige und auf Integration setzende Bildungspolitik auf den Weg zu bringen.

Das heutige Bildungswesen hat einen großen Anteil an der Misere, die sich in sehr verschiedenen Formen zeigt: Bildungsmisere, Defizite bei der Vermittlung der Werte unserer Verfassung, Zulassung und Duldung von Diskriminierungen usw. Nur gut gebildete junge Menschen, eine überzeugende Aufklärungsarbeit, eine umfassende und sich auch in der Wirtschafts- und Lohnpolitik zeigende Gleichstellungspolitik von Frauen und Männern können dazu beitragen, mehr selbstbewusste junge Frauen mit Migrationshintergrund heranzuziehen. Das ist das A und O einer glaubwürdigen emanzipatorischen Politik. Parallel dazu muss der Rechtsstaat von allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Handlungen Gebrauch machen, die kriminell, erniedrigend, diskriminierend und nötigend sind. Der Erfolg von strafrechtlichen Sanktionen hängt immer davon ab, wie erfolgreich die anderen gesellschaftlichen Bereiche funktionieren.

Mit Respekt vor den Religionen wird die Einhaltung und Respekt vor grundgesetzlich verbrieften Religions- und Glaubensfreiheit angemahnt. Selbstverständlich steht die Religions- und Glaubensfreiheit in einem Rechtsstaat nicht über den anderen Freiheitsrechten, sondern sie ergänzen sich. Diese Balance aufrechtzuerhalten, ist eine wichtige und schwierige politische Aufgabe.

Nicht nur beim Besuch von Moscheevereinen und –gemeinden sondern auch bei Besuchen in anderen Ländern setzt sich Frau Roth unmissverständlich und klar für die Universalität von Menschenrechten, Diskriminierungsverbot, Gleichheit von Mann und Frau, Menschenrechte von ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten ein. Deshalb wird sie nicht selten unsachlich und heuchlerisch angegriffen. Zum Thema Schwimm- und Sportunterricht würde ich Ihnen die Lektüre einer gründlichen und seriösen Recherche von Martin Spiwak in „Die Zeit“ vom 07.12.2006 empfehlen, die die meisten Schlagzeilen zu diesem Thema ohne Pathos und Mitleid Lügen straft.

Mit freundlichen Grüßen

Ali Mahdjoubi
Wissenschaftlicher Mitarbeiter

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