Frage an Claudia Roth bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Claudia Roth
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Frage von Michael B. •

Frage an Claudia Roth von Michael B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Roth,

Sie haben die Vermutung geäußert, dass im Fall Marco W. u. U. die Politik Schuld an seiner mißlichen Lage sein könnte. Da Sie ja so sehr für Menschenrechte eintreten, weise ich auf den Fall Görgülü hin. Es passiert doch hier in Deutschland, dass Menschenrechte mit den Füssen getreten werden und sich Richter und Jugendämter über Entscheidungen des Menschenrechtsgerichtshofes hinwegsetzen! Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass eben solche Fälle, wie die des Herrn Görgülü, die Behandlung deutscher Bürger durch die Justiz im Ausland erheblich verschärfen wird und was würden Sie vorschlagen um die Einhaltung der Menschenrechte hierzulande - es geht im Fall Görgülü lediglich um den Kontakt eines Vaters zu seinem leiblichen Sohn - zu verbessern?

Denn es ist nicht nur Herr Görgülü betroffen, sonder Millionen Scheidungsväter die von ihren Kindern ferngehalten werden.

MfG

Michael Baleanu

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Sehr geehrter Herr Baleanu,

in den Debatten um Menschenrechte, Verhinderung und Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen darf es nicht zu Vergleichen kommen, die Verbrechen und Missstände in unterschiedlichen Ländern gegeneinander aufrechnen. Sonst wäre die Menschenrechtsdebatte ein Feld von Beliebigkeiten und Unverbindlichkeiten. Jede Menschenrechtsverletzung ist eine zu viel.

Zweifelsohne kommt es auch in Rechtsstaaten zu Menschenrechtsverletzungen. Trotzdem ist es kein Anlass, Fälle von Menschenrechtsverletzungen anderswo zu relativieren oder gar als verständliche Reaktion dieser Staaten zu rechtfertigen. Im Unterschied zu Unrechtsstaaten stehen den Menschen in den Rechtsstaaten institutionelle Instrumente und Rechtsmittel zur Verfügung.

Im Falle von Herrn Görgülü geht es um einen leider verfahrenen Streit um das Sorgerecht. Es ist sehr bedauerlich, dass einem Vater, dem das Sorgerecht zugesprochen wurde, das Umgangsrecht gleichzeitig verwehrt und dem Kind wie allen anderen Beteiligten ein so langer Rechtstreit zugemutet wird. Die Rechtslage im vorliegenden Fall ist in der Tat nicht ganz einfach. Grundsätzlich hat jedes Kind ein Recht auf Umgang mit seinen Eltern (natürlich mit Einschränkungen bei Gewalt/Missbrauch in der Familie). In Konfliktfällen ist im Interesse des Kindes eine Vermittlung durch das Jugendamt oder eine Mediation erforderlich, um damit die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten in Einklang zu bringen. Für Kinder ist eine Verweigerung des Umgangs - durch welches Elternteil auch immer - eine Belastung der eigenen Persönlichkeitsentwicklung und somit für mich nicht hinnehmbar.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist im Prinzip eine Feststellung der Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Ein Eingriff in deutsches Recht erfolgt daraus nicht zwingend. Es gibt mittlerweile eine Fülle von Gutachten und Analysen der wechsel- und gegenseitigen Wirkung zwischen den nationalen Rechtsnormen und der EMRK. "Hat die Indiviualbeschwerde Erfolg, stellt der EGMR fest, dass der betroffene Staat die Konvention verletzt hat (Art. 41 EMRK). Seine Urteile sind lediglich feststellender Natur und haben keine kassatorische Wirkung: der EGMR kann in seinem Urteil die beanstandete Maßnahme nicht aufheben. Die Umsetzung der Entscheidung muss durch den verurteilten Staat erfolgen. Gemäß Art. 46 EMRK sind die Mitgliedstaaten gehalten, die Urteile des EGMR zu beachten; sie sind damit verpflichtet, ihre nationale Gesetzgebung und sonstigen Rechtsakte in Übereinstimmung mit der Konvention zu bringen und konventionswidrige Einzelakte, zum Beispiel Gerichtsurteile, zu beseitigen, etwa durch Wiederaufnahmeverfahren. Welche innerstaatlichen Maßnahmen konkret zu ergreifen sind, schreibt der EGMR dem Staat in seinem Urteil nicht vor." (vgl. Wittinger, NJW 2001, 1238)

Dennoch wirken die Entscheidungen des EGMR trotz der fehlenden Kassationsbefugnis vielfach in das deutsche Recht hinein. Man sollte hier auch die Wirksamkeit der Pflicht zur Entschädigungszahlung an die Beschwerdeführer nicht gering schätzen, zu der der EGMR den betroffenen Mitgliedstaat unter bestimmten Voraussetzungen verurteilen kann.

Deshalb bleibt weiterhin die Politik in der Pflicht, Schritte zu unternehmen, die die nationale Gesetzgebung in diesem Sinne modernisieren und zu einem hohen Grad von Harmonisierung in der EU führen.

Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen hat den Prüfauftrag des Bundesverfassungsgerichts von 2003 zum Anlass genommen, in einem Fachgespräch Anfang Mai diesen Jahres der Frage nachzugehen, ob das bis heute unangetastete Vetorecht der Mutter auf eine Gerechtigkeitslücke verweist, die es im Interesse der betroffenen Kinder zu schließen gilt.

Dabei sollte die Gratwanderung zwischen Elterngerechtigkeit und Kindeswohl ausgeleuchtet werden. Die grüne Bundestagsfraktion will eine zeitgemäße Lösung im Interesse aller Betroffenen finden und diese in die parlamentarische Beratung einbringen. Im Nachgang des Fachgesprächs hat unsere Fraktion eine kleine Anfrage (16/5852) an die Bundesregierung gerichtet, deren Beantwortung in den Meinungsfindungsprozess einfließen wird.

Weitere Informationen zum Thema finden Sie im Internet unter http://www.gruene-bundestag.de (unter Themen „Kinder“) oder direkt unter: http://www.gruene-bundestag.de/cms/kinder_jugend_familie/dok/182/182415.htm

Mit freundlichen Grüßen

Claudia Roth

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