Frage an Claudia Roth bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Claudia Roth
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Frage von Michael B. •

Frage an Claudia Roth von Michael B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Roth,

die Nation wartet in diesen türkisch-bewegten Zeiten dringend auf Ihre Meinung zu den aktuellen Ereignissen.

Was sagen Sie zu der türkischen Massenveranstaltung gestern (10.02.) in Köln? Verstehen Sie das vielfach geäußerte Unbehagen?

Vielen Dank für Ihre Antwort.

Mit freundlichen Grüßen

Michael Bilharz

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Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Bilharz,

Wenn Sie mit türkisch-bewegten Zeiten den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland meinen, wirft Ihr Wunsch an uns die Frage auf, über welche Informationsquellen Sie verfügen und welche Medien Sie im Alltag konsumieren. Frau Roth hat sich rege an den Debatten und Diskussionen rund um den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan beteiligt. Angesichts der Fülle der Materialien sehen wir uns nicht im Stande, Ihnen einen persönlichen Pressespiegel zusammenzustellen.

Deshalb möchten wir lediglich einige Anmerkungen zur Diskussion vorbringen: Es ist zu beobachten, dass die Aufregung über die Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland und die damit einhergehende Kritik sehr unterschiedlich begründet werden. Es ist legitim und eine gute demokratische Gepflogenheit, auch Regierungschefs und Spitzenpolitiker offen und schonungslos zu kritisieren. Bezeichnend für die meisten Kritiker von Erdogan hierzulande ist aber, dass sie inhaltliche Aussagen meiden, was an Erdogans Forderungen unberechtigt, falsch oder gar eine Überschreitung seiner Kompetenzen gewesen ist.

Erdogan hat zu den versammelten Menschen in Köln klar und unmissverständlich gesagt: Integriert Euch, lernt Deutsch, werdet deutsche Staatsbürger, wenn ihr nicht in die Türkei zurückkommen wollt. Noch nie zuvor hat ein türkischer Ministerpräsident so deutlich zur Integration aufgerufen. Solche Sätze hätte man gerne von den früheren türkischen Spitzenpolitikern gehört, die viele Freunde in den Volksparteien der BRD hatten. Die Beschimpfung von Erdogan kaschiert das schlechte Gewissen derjenigen, die das Thema Integrationspolitik für ein Hirngespinst von „Multikulti-Politik“ gehalten und in Wahrheit in der praktischen Politik total versagt haben. Da tut es besonders weh, wenn ein türkischer Ministerpräsident als Integrationsbeauftragter auftritt! Natürlich hat Erdogan den Finger in eine Wunde gelegt, die es aus Sicht einiger Spitzenpolitiker der Volksparteien oder anderer Realitätsverweigerer gar nicht gibt. Die arrogante Art und Weise mancher Kritiker erinnert uns an die Behandlung der „Gastarbeiter aus Südostanatolien" in den 70er und 80er Jahren. Integration ist keine Einbahnstraße, sie basiert auf Gegenseitigkeit.

Der Wunsch des türkischen Ministerpräsidenten nach mehr türkischen Schulen in Deutschland ist nichts Verwerfliches und sollte ernsthaft überlegt werden. In Deutschland sind zweisprachige staatliche Gymnasien mit Englisch, Französisch oder Italienisch selbstverständlich. Es spricht deshalb nichts gegen zweisprachige Schulen mit Deutsch und Türkisch. Diese Zweisprachigkeit auch beim Lehrerpersonal fördert interkulturelles Lernen und ist zudem ein großes Reservoir für den Exportweltmeister Deutschland. Dieses Angebot und die damit verbundenen Forderungen in Bausch und Bogen abzulehnen, zeugt nicht von Offenheit in der Integrationsdebatte. Wie will man Menschen erklären, dass französische oder englische Schulen hierzulande willkommen sind, nicht aber türkische? Es geht hier offensichtlich nicht um Sprache oder Kultur, sondern um die Abwehr einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe. An einer ganzen Reihe von deutschen Universitäten kann man ein Studium auf Englisch absolvieren, ohne deutsche Sprachprüfung, und keiner wundert sich darüber, dass das (ab der achten Klasse einsprachige) französische Gymnasium in Berlin Wartelisten führt. All diese Unternehmungen gelten als Beförderung der internationalen Verständigung, als Erfolge des Dialogs zwischen den Kulturen. Geht es aber um die Türkei und die Türken, gelten die Regeln nicht mehr.

Über Jahrzehnte wurden die türkischen „Gastarbeiter“, ihre Kinder und sogar Kindeskinder, in Deutschland in einem rechtlich unsicheren Zustand gehalten. Man kann es ihnen nicht täglich vorwerfen, daraus den Schluss gezogen zu haben, dass ihr Leben hier nicht fest gegründet ist, dass die Vorbehalte gegen sie jederzeit in offene Ausgrenzung und Diskriminierung umschlagen, dass sie wieder "nach Hause geschickt" werden können - und dass sie sich abschirmen. Diese Isolation aber bricht man nicht auf, indem man ihnen die türkische Sprache und Kultur absichtlich vorenthält. Deshalb ist eine Integrationspolitik erforderlich, die diese Zweisprachigkeit Deutsch-Türkisch und das „in zwei Kulturen zuhause zu sein“ endlich anerkennt und akzeptiert.

Auch die Forderung der CSU nach einer Überprüfung der EU-Beitrittsverhandlungen ist einfach billig, unflätig, unglaubwürdig und vor allem unwahr. Denn Söder und Co. wissen ganz genau, dass sie sich nicht über gültige EU-Beschlüsse hinwegsetzen können. Deshalb lassen sie politische Verfolgungsfantasien ins Kraut schießen.

Was Erdogans Politik in der Türkei anbelangt, sind wir der Meinung, dass seine Regierung wesentliche und historische Schritte in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unternommen hat, die aber nicht ausreichen. Natürlich und selbstverständlich kritisieren wir den aktuellen Stillstand im türkischen Reformprozess, den Unwillen zur ersatzlosen Abschaffung des unsäglichen Killer-Paragrafen 301, der zum angeblichen Schutz des Türkentums die Rede- und Meinungsfreiheit weiterhin einschränkt. Die religiösen und ethnischen Minderheiten warten immer noch auf die Umsetzung der beschlossenen Reformen, um endlich ihre Rechte wahrnehmen zu können. Erdogan hat seine Hausaufgaben noch nicht gemacht, was zum Beispiel die Einführung der kurdischen Sprache und die Reform der religiösen Stiftungen betrifft. Das ist aber kein Grund, seine Kritik an den Integrationsdefiziten in Deutschland nicht wahrhaben zu wollen.

Mit freundlichen Grüßen

Das Büro-Team von Claudia Roth

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