Frage an Dagmar Roth-Behrendt bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

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Dagmar Roth-Behrendt
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Frage von Stefan S. •

Frage an Dagmar Roth-Behrendt von Stefan S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrte Frau Roth-Behrendt,

ich möchte ihnen eine Frage zum Lissabon-Vertrag stellen. Einer der ersten Absätze lautet "Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas..." Wie kann davon die Rede sein, wenn 26 der 27 Mitgliedstaaten allein ihr Parlament entscheiden haben lassen und Irland, das einzige Land in dem das Volk abgestimmt hat Nein sagte?

Desweiteren möchte ich ihnen eine Frage über folgenden Artikel des Vertrags stellen: "Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen
Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten."b
Ich stelle ihnen die Frage wo die Demokratie bei diesem Unternehmen bleibt? 27 Köpfe entscheiden, von denen 26 einem anderen Land angehören die ich nicht vertreten kann und erlassen Gesetze, die für 400 Millionen EU-Bürger über deren Staatsrecht stehen.

Damit komme ich zu meiner letzten Frage bezüglich den Sitzen Deutschlands. Diese wurden von 99 auf 96 reduziert. Gemessen an der Bevölkerungzahl würden Deutschland etwa 150 Sitze zustehen.
Nach welchen Richtlinien wird bestimmt welches Land wieviele Sitze hat?

Mit freundlichen Grüßen

Stefan Schubert

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Schubert,

vielen Dank für Ihr Interesse am Vertrag von Lissabon, der ein wichtiger Schritt hin zu mehr Handlungsfähigkeit und Effektivität innerhalb der Europäischen Union bedeuten würde.

Zunächst möchte ich Sie darauf hinweisen, dass die von Ihnen zitierten Artikel aus dem Europäischen Verfassungsvertrag stammen. Der Wortlaut dieser Artikel wird im Vertrag von Lissabon so nicht übernommen. Über das Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gibt es aber im Vertrag von Lissabon ein entsprechendes Protokoll (siehe Protokoll 17, Erklärung zum Vorrang). In dem Protokoll wird, wie Sie nachlesen können, noch einmal das Prinzip des Vorrangs erwähnt, das bereits seit 1964 als Grundprinzip der Europäischen Gemeinschaft festgelegt wurde. Im Fall Costa/ENEL hat der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass Gemeinschaftsrecht Vorrang vor nationalem Recht hat. Dieses Prinzip ist notwendig, um das Funktionieren und die Effektivität des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Das Vorrangprinzip besteht also bereits seit 40 Jahren und ist keine Neuerung, die erst durch den Vertrag von Lissabon eingeführt werden soll.

Bezüglich Ihrer Anmerkung zu der Befragung der Bevölkerung ist zu beachten, dass Irland der einzige Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist, in dessen Verfassung festgeschrieben ist, dass jede Vertragsänderung über die Europäische Union nur durch eine Volksabstimmung ratifiziert werden kann. In jedem anderen Mitgliedsstaat muss das nationale Parlament neue völkerrechtliche Verträge, wie zum Beispiel auch den Vertrag von Lissabon, ratifizieren.

Die nationalen Parlamente werden direkt von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt und sind durch die direkte, freie und geheime Wahl legitimiert in unserer repräsentativen, parlamentarischen Demokratie die Bürgerinnen und Bürger zu vertreten. Die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon durch den Deutschen Bundestag und den Bundesrat ist damit also ein Grundprinzip unserer repräsentativen Demokratie in der Bundesrepublik. Das deutsche Grundgesetz schreibt vor, daß internationale Verträge, also auch der Vertrag von Lissabon, durch Bundestag und Bundesrat ratifiziert werden. Voraussetzung für eine Volksabstimmung über internationale Verträge ist eine formelle Änderung des Grundgesetzes, für die es bisher keine Mehrheit im Bundestag gibt. Für jede Ratifizierung muß im Übrigen ein spezielles Ratifizierungsgesetz erlassen werden wofür eine 2/3 Mehrheit benötigt wird. Im Falle des Vertrags von Maastricht und des Verfassungsvertrags wurden diesbezüglich auch Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht, die jedesmal vom Gericht für unzulässig erklärt worden sind.

Ich teile Ihre Einschätzung in Ihrer letzten Frage, dass 96 Sitze, wie im Vertrag von Lissabon vorgeschrieben, oder auch 99 Sitze, wie im Vertrag von Nizza zuletzt vereinbart, für einen so großen Mitgliedsstaat wie Deutschland eine große Herausforderung sind. Wir deutschen Abgeordneten haben zwangsläufig größere Bereiche im Verhältnis zur Einwohnerzahl zu betreuen, als dies zum Beispiel bei meiner luxemburgischen Kollegin oder meinem Kollegen aus Malta der Fall ist. Als einzige SPD-Abgeordnete in Berlin ist es für mich natürlich schwer, 3,3 Millionen Berlinerinnen und Berliner über meine Arbeit im Europäischen Parlament zu informieren.

Allerdings hängt die Funktionsfähigkeit eines Parlamentes auch mit seiner Größe zusammen. Dies - und die damals bevorstehende Erweiterung der EU berücksichtigend -hat bereits der Vertrag von Nizza, wie jetzt auch der Vertrag von Lissabon eine Obergrenze der Zahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament vorgesehen.
In diesem Koordinatensystem zwischen einer festen Zahl an Sitzen und einer Mindestzahl an Mandaten für kleine Länder (wie zum Beispiel Malta, Estland und Luxemburg), um diese nicht zu marginalisieren, ist die Aufteilung auf alle andere Mitgliedsstaaten naturgemäß schwierig. Davon sind besonders die großen Mitgliedsstaaten, also hier vor allem auch Deutschland betroffen.

Für mich und all die Kolleginnen und Kollegen, die den Anspruch haben, häufig mit den Menschen in unseren Bundesländern zu kommunizieren und unsere Begeisterung für die EU weiterzutragen, sind diese riesigen "Wahlkreise" immer eine besondere Herausforderung und oft auch ein Quell der Frustration gewesen. Wichtig ist für mich als Europaabgeordnete deshalb immer, dass möglichst viele Menschen meine Arbeit mit Interesse, Sympathie und wo nötig mit Kritik begleiten.

Mit freundlichen Grüßen

Dagmar Roth-Behrendt