Frage an Jens Kerstan bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

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Jens Kerstan
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Christoph R. S. •

Frage an Jens Kerstan von Christoph R. S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Ihre Partei ist für einen EU-Beitritt der Türkei, obwohl sehr viele Türken eher wert-konservativ sind und eine ganz andere Politik haben wollen als die GRÜNEN:
so würden fast alle türkischen Abgeordneten im Europaparlament sein
für Diskriminierung Homosexueller
für Verbot von Abtreibung
für Wirtschaftsförderung auf Kosten von Umweltschutz
gegen Gleichberechtigung der Frauen
sehr Nationalistisch

Sie betrachten wohl den EU-Breitritt der Türkei als einen Köder, damit diese demokratischer werde und besser in den Menschenrechten.

Aber ist nicht nach einem Betritt auch umgekehrt möglich, dass 80 Mio Türken so viel Gewicht in die Waagschale Europas werfen könne, dass in ganz Europa Menschenrechte, Frauenförderung usw. weniger wichtig werden. dass Bündnisse aufkommen mit Law and Oder -Politikern anderen Länder, oder konservativen Frau-an- dern-Herd-Rufern?

herzlichen Dank für Ihre Antwort.

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Strebel,

vielen Dank für Ihre Frage, in der Sie Ihre Bedenken gegen einen EU-Beitritt der Türkei ansprechen.

Wir Grünen bestärken die Türkei, weiterhin auf ihrem Reformweg zu bleiben und unterstützen in den Beitrittverhandlungen den EU-Beitritt der Türkei. Die EU ist aus unserer Sicht ein politisches Projekt für Frieden und Wohlstand, die Grundlage sind gemeinsame demokratische Werte. Wir wollen die EU mit mehr Mitgliedern handlungsfähiger machen und meinen, dass die Integration der Türkei diese Idee nachhaltig unterstützen und auch zur Stabilität in den Nachbarregionen beitragen kann. Zwar haben die gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden den internen Reform- und Integrationsprozess ins Stocken gebracht, aber langfristig macht es Sinn, jetzt die Verhandlungen mit der Türkei einzutreten, um zu zeigen, dass man sich an Versprechungen halten will und um den konstruktiven Dialog am Laufen zu halten. Eine klare Herausforderung ist, wie auch Ihre Befürchtungen hinsichtlich einer institutionellen Überdehnung der EU zeigen, den Islam und die Demokratie zu vereinbaren. Dabei ist der Dialog zwischen den Kulturen von besonderer Bedeutung, um Ängste und Unsicherheiten abzubauen. Wir wollen Fehlinformationen und Vorurteilen mit einer sachlichen Auseinandersetzung begegnen. Es gibt klare Regeln für EU-Mitglieder, die sich an übergeordneten Menschenrechten und Regeln orientieren, und die Angst, dass die Türkei nach einem Beitritt plötzlich menschenrechtverletzende Praktiken und die Diskriminierung von Frauen auf andere EU-Mitglieder überträgt, halte ich für unbegründet. Sie fürchten, dass die Türkei nach einem Beitritt "viel Gewicht in die Waagschale Europas" werfen wird. Es ist absehbar, dass zumindest die Zahl der Mitlieder des Europäischen Rates deutlich ansteigen würde, da die Türkei mindestens so viele Abgeordnete bekommen würde wie andere große Mitgliedsstaaten. Welche Anpassungen sich dann hinsichtlich der Abgeordnetenzahl oder der Sitzverteilung ergeben, ist im Lauf der Beitrittsverhandlungen zu prüfen.

Der Beginn der Beitrittsverhandlungen wird oft mit einem "baldigen Beitritt" vermischt. Der Europäische Rat hat lediglich die Beitrittsverhandlungen beschlossen und ist zu dem Schluss gekommen, dass die Türkei weitere Fortschritte machen und ihre demokratischen Strukturen stärken muss.

Seit 1999 ist die Türkei offizieller Beitrittskandidat und muss, wie die anderen Beitrittsländer, bestimmte politische und wirtschaftliche Anpassungen vornehmen, um Beitrittsverhandlungen beginnen zu können. Hierfür wurden die so genannten "Kopenhagener Kriterien" aufgestellt, kurz zusammengefasst handelt es sich um das "politische Kriterium" (stabile Institutionen, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte, Achtung und Schutz von Minderheiten), das "wirtschaftliche Kriterium" (funktionierende Marktwirtschaft, EU-Wettbewerbsdruck standhalten) und das "Acquis-Communautaire-Kriterium" (Übernahme des gemeinschaftlichen Regelwerks der EU, deren Verpflichtungen und Ziele sollen zu den eigenen gemacht werden). Die Strategie der EU-Kommission steht auf drei Säulen, die wir Grünen begrüßen. So wird 1. der Reformprozess in der Türkei durch eine verstärkte Zusammenarbeit gefördert und auch auf eine Fortsetzung der Reformen gedrängt, 2. wird streng auf das "Abarbeiten" des bereits erwähnten Acquis Communautaire geachtet und 3. wird der politische und kulturelle Dialog zur Annäherung zwischen Bürgern der EU-Mitgliedsstaaten und der Türkei geführt.

Die Fortschritte der Türkei in diese Richtung wurden am 6. Oktober 2004 vorgestellt, die hat EU-Kommission festgestellt, dass sie die "Kopenhagener Kriterien" ausreichend erfüllt hat. Der Beginn der Beitrittsverhandlungen wurde als logische Konsequenz empfohlen: am 3. Oktober 2005 werden die Beitrittverhandlungen aufgenommen. Ziel ist die Vollmitgliedschaft der Türkei, aber die Verhandlungen sind ergebnisoffen, denn über den Ausgang der Verhandlungen gibt es im Vornhinein keine Garantie. Einen Automatismus in der Beitrittsfrage wird es nicht geben, denn die Verhandlungen können ausgesetzt werden, wenn die Reformen in der Türkei nachlassen: Im Falle von schweren Rückschritten und anhaltenden Verletzungen von Menschen- und Minderheitenrechten oder von demokratischen und rechtsstaatlichen Grundwerten in der Türkei kann die Kommission von sich aus oder auf Antrag von einem Drittel der Mitgliedsstaaten die Aussetzung der Verhandlungen empfehlen. Der Rat würde dann auf Grundlage dieser Empfehlung mit qualifizierter Mehrheit beschließen. Sollten die Verhandlungen scheitern, muss sichergestellt werden, dass die Türkei so stark wie möglich in den europäischen Strukturen verankert bleibt. Die Beitrittsverhandlungen werden im Übrigen mindestens 10 Jahre dauern, denn sie sollen erst dann abgeschlossen werden, wenn der Finanzrahmen der EU für den Zeitraum nach 2014 beschlossen worden ist.

Mit freundlichen Grüßen
Jens Kerstan