Frage an Kerstin Andreae bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Kerstin Andreae
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Mirko O. •

Frage an Kerstin Andreae von Mirko O. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Liebe Frau Andreae,

ich bitte Sie um Antwort auf folgende Fragen:

Setzen Sie sich für eine bedingungslos folter- und gewaltfreie Psychiatrie ein? (siehe auch folter.abschaffen.de )

Setzen Sie sich für eine Abschaffung aller psychiatrischen Sondergesetze ein, wie es die Behindertenrechtskonvention fordert?

Setzen Sie sich für die Abschaffung von Zwangsbetreuung ein? Setzen Sie sich dafür ein, dass rechtliche Betreuung nurmehr als unterstützende Leistung bzw. Assistenz erbracht wird und der Entmündigung durch Betreuung die Grundlage entzogen wird?

Setzen Sie sich für eine Todesfallstatistik aller psychiatrisch Behandelten ein?

Setzen Sie sich für mehr Geld für die Selbsthilfe Psychiatrie-Erfahrener ein?

Herzlichen Dank für Ihre Antwort - für ein persönlichjes Gespräch stehe ich gerne zu Verfügung

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Bündnis 90/Die Grünen

Setzen Sie sich für eine bedingungslos folter- und gewaltfreie Psychiatrie ein? (siehe auch folter.abschaffen.de )

Die grüne Bundestagsfraktion setzt sich seit Jahren für eine gewaltfreie Psychiatrie ein. Der Schutz von Menschenrechten ist ein zentraler Bestandteil unserer Politik. Folter und Gewalt dürfen keinesfalls als Mittel zur Durchsetzung von politischen und staatlichen Interessen eingesetzt werden. Auch 40 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete sind wir noch weit entfernt von einem Ende des Zwangs in der Psychiatrie. Es sind weitere Anstrengungen nötig, um die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen und Betroffene in der Entscheidungsfindung zu unterstützen. Jede Person muss frei darüber entscheiden können, ob und inwieweit sie eine Krankheit diagnostizieren und behandeln lässt. Eine Behandlung ohne oder gegen den Willen der betroffenen Person ist ein schwerer Eingriff in die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit und Selbstbestimmung und wird von vielen Patient*innen als traumatisierend und erniedrigend erlebt. Gleichzeitig kann auch das Unterlassen einer Behandlung unerträglich sein, nämlich dann, wenn ein Mensch in seiner Gesundheit massiv gefährdet ist oder gar sein Leben auf dem Spiel steht und er dies aufgrund eines einsichtsunfähigen Zustandes nicht erkennt. Daraus folgt für uns, Zwangsbehandlungen als allerletztes Mittel zur Abwendung einer schwerwiegenden Gesundheits- oder Lebensgefahr nach klaren und restriktiven gesetzlichen Regelungen zuzulassen, wenn alle anderen Möglichkeiten zur Gefahrenabwehr ausgeschöpft wurden.
Maßgeblich ist, die psychiatrische-psychotherapeutische Versorgung so zu organisieren, dass stationäre Aufenthalte und Zwang von vornherein vermieden werden. Wir wollen dafür die regionale Pflichtversorgung ausbauen, die gemeindenahe Versorgung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung flexibler gestalten, mehr ambulante, auch aufsuchende Krisenintervention und -begleitung vorsehen sowie psychotherapeutische Angebote ausweiten. Dabei wollen wir ebenso die Selbsthilfe und die Peer-Beratung stärken und ausbauen. Durch strukturelle Vorgaben und eine am individuellen Behandlungsbedarf orientierte Finanzierung von Psychiatrien wollen wir Zwangsmaßnahmen so weit wie möglich aus dem Stationsalltag verbannen. Zudem müssen psychiatrische Krankenhäuser verpflichtet werden, Patientinnen und Patienten mit wiederkehrenden Krisen eine Behandlungsvereinbarung für Situationen einer Nichteinwilligungsfähigkeit zu unterbreiten, wenn die Patient*innen das wollen.

Setzen Sie sich für eine Abschaffung aller psychiatrischen Sondergesetze ein, wie es die Behindertenrechtskonvention fordert?

Wir setzen uns für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland ein. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention haben Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung bzw. Psychiatrieerfahrung die gleichen Rechte auf Selbstbestimmung, psychosoziale und medizinische Hilfen wie somatisch Erkrankte. Besonders im Bereich der psychiatrischen Versorgung muss die Einhaltung von Menschenrechten ein zentrales Grundanliegen sein. Psychiatrische Gesetze müssen immer wieder auf den Prüfstand gestellt und weiterentwickelt werden, um das Selbstbestimmungsrecht aller Personen zu schützen und zu stärken. Um Missstände in der Praxis und gesetzliche Fehlentwicklungen zu erkennen und zu korrigieren, wollen wir flächendeckend trialogisch besetzte Besuchskommissionen einsetzen und ein dauerhaftes Monitoring über Anzahl, Dauer und Durchführung von Zwangsbehandlungen einrichten. Den Ausschluss von Menschen aufgrund einer Behinderung vom Wahlrecht wollen wir abschaffen.

Setzen Sie sich für die Abschaffung von Zwangsbetreuung ein? Setzen Sie sich dafür ein, dass rechtliche Betreuung nur mehr als unterstützende Leistung bzw. Assistenz erbracht wird und der Entmündigung durch Betreuung die Grundlage entzogen wird?

Die rechtliche Betreuung ist für uns insbesondere mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention ein sehr wichtiges Thema, mit dem wir uns bereits in den zurückliegenden Wahlperioden intensiv beschäftigt haben. Für das Selbstbestimmungsrecht von Menschen, die unter rechtlicher Betreuung stehen, werden wir auch nach der Wahl weiter kämpfen.
Für uns bleibt klar: Eine Zwangsbetreuung lehnen wir kategorisch ab. Dem Wunsch der betroffenen Person, eine bestimmte Person für die rechtliche Betreuung zu benennen oder gerade nicht zu benennen, ist Folge zu leisten. Nur so kann dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen, die unter rechtlicher Betreuung stehen, entsprochen werden. Zudem hat eine rechtliche Betreuung durch Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler, sprich einer Vertrauensperson, immer Vorrang vor einer Berufsbetreuung. Dies gilt selbst dann, wenn bereits eine Berufsbetreuung besteht und sich erst später die Möglichkeit ergibt, die Betreuung ehrenamtlich durchführen zu lassen.
Gerade für die Gewinnung und Betreuung von ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuern sind die Betreuungsvereine eine unverzichtbare Stütze und Anlaufstelle. Deshalb haben wir uns in den letzten Jahren für die bessere Förderung der Betreuungsvereine eingesetzt.

Setzen Sie sich für eine Todesfallstatistik aller psychiatrisch Behandelten ein?

Wir unterstützen eine Todesfallstatistik für Menschen, die in der Psychiatrie behandelt wurden. Eine allgemeine Todesfallstatistik, die auch Todesfälle aufgrund psychischer und Verhaltensstörungen aufführt, gibt es bereits seit langem. Die Umsetzung müsste aber deutlich verbessert werden. Grundsätzlich finden wir mehr Transparenz über das Behandlungsgeschehen wichtig. Es fehlen insbesondere Daten zu Häufigkeit, Art und Durchführung von Zwangsmaßnahmen, Nutzen und Schäden von Zwangsmaßnahmen und der Wirksamkeit von Ansätzen zur Zwangsvermeidung.

Setzen Sie sich für mehr Geld für die Selbsthilfe Psychiatrie-Erfahrener ein?

Patientinnen und Patienten brauchen eine starke Stimme, damit sie Ärztinnen und Ärzten sowie Krankenkassen auf Augenhöhe begegnen können. Sie sollen stärker an allen ihre Versorgung betreffenden Entscheidungen beteiligt werden. Die gestiegene Verantwortung und der wichtige Beitrag, den die Selbsthilfeorganisationen in der Gesundheitsversorgung leisten, stehen im Missverhältnis zur prekären Finanzierung, die wenig verlässlich und mit vielfältigen Abhängigkeiten verbunden ist. Wir setzen uns für eine nachhaltige Finanzierung von Selbsthilfeverbänden ein. Ein vielversprechender Weg zur Begleitung und Stärkung von Patient*innen sind Peer-to-Peer-Ansätze, die wir ausbauen und stärken wollen. Ausgebildete Genesungsbegleiter*innen können als Übersetzer*innen zwischen Betroffenen und Behandler*innen fungieren, ihre Perspektive als Betroffene einbringen und so ein Partnerschaftsprinzip in der Behandlung verankern. Um die Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen im psychiatrischen Hilfesystem voranzubringen, sollten Genesungsbegleiter*innen und Peer-Beratungen von den Krankenkassen refinanzierter Baustein der ambulanten und stationären Regelversorgung werden. Außerdem wollen wir darauf hinwirken dass es Besuchskommissionen in allen Ländern unter Beteiligung von Patientenvertreter*innen gibt.

Herzliche Grüße

Kerstin Andreae