Frage an Klaus Schüle von Ulrich N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Schüle,
Sie schreiben:
"Gesetze auf Landesebene sind dagegen nahezu immer sehr komplexe Sachverhalte, die in vielen einzelnen Details die rechtlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens regeln. Diesen komplexen Sachverhalten und Gesetzen wird der einfache Modus der Volksabstimmung mit einem ´Ja‘ oder ´Nein‘ einfach nicht gerecht."
1. Im Landtag (wie in jeder Volksvertretung, egal auf welcher Ebene) stimmen Sie bei jeder Abstimmung entweder mit "Ja", "Nein" oder "Enthaltung". Sind Sie auch hier der Meinung, daß "diesen komplexen Sachverhalten und Gesetzen der einfache Modus der Abstimmung mit einem ´Ja‘ oder ´Nein‘ einfach nicht gerecht" wird? Volksabstimmungen erfolgen nämlich in der Regel anhand einer konkret formulierten Frage. Das Abstimmungsmuster ist also nicht anders als in einem jeden Parlament.
2. Sie sind sicher mit den umfangreichen Bürgerbeteiligungsrechten der Schweiz vertraut. Dort können die Bürger mit relativ geringen Hürden über praktisch jedes Anliegen und jeden Gesetzesentwurf abstimmen und ggf. die Entscheidungen der parlamentarischen Vertretungen verändern. Was macht die Situation in Deutschland so fundamental anders, daß Sie sich offenbar eine Übertragung des Schweizer Systems der Bürgerbeteiligung in Deutschland und insbesondere in BW nicht vorstellen können?
3. Meiner ganz persönlichen Meinung und meinem Empfinden nach, schwingt in Ihren Ausführungen die versteckte Ansicht mit, daß der gemeine Bürger einfach zu ungebildet und uninformiert ist, um auch zum Teil komplexe Entscheidungen zu treffen. Als gebildeter Mensch übernehmen deshalb Sie diese Aufgabe, weil Sie den Bürger dafür nicht für qualifiziert genug halten. Liege ich mit dieser Einschätzung richtig? Oder mißverstehe ich Sie?
4. Stimmen Sie folgende Aussage zu:
"Alle Macht geht vom Volke aus. Es hat damit auch das Recht Fehler bei seinen Entscheidungen zu machen und die Konsequenzen dafür zu tragen."
Mit freundlichen Grüßen,
Ulrich Nentwig
Sehr geehrter Herr Nentwig,
vielen Dank für Ihre Nachfragen zu meiner Antwort. Ich werde versuchen Ihre Fragen der Reihe nach zu beantworten:
1. Der parlamentarische Beratungsprozess besteht aus wesentlich mehr als der endgültigen Abstimmung. In den Lesungen im Parlamentsplenum und vor allem in den Ausschüssen werden die Gesetzentwürfe intensiv diskutiert und oftmals noch wesentlich abgeändert. Die Abstimmung im Parlament ist dabei nur der letzte Schritt des Gesetzgebungsprozesses. Daher sehe ich hier einen wesentlichen Unterschied gegenüber einer direkten Abstimmung über eine Fragestellung in einer Volksabstimmung.
2. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich für unser Land das System der repräsentativen Demokratie in über 60 Jahren als Erfolgsmodell erwiesen hat. Jede Gemeinschaft hat ihre Strukturen und Prinzipien, die auf einer gemeinsamen Geschichte und gewachsenen Traditionen fußen und deshalb nicht 1:1 in ein anderes Gemeinwesen übertragbar sind. Dies trifft sowohl für Deutschland und Baden-Württemberg als auch für die Schweiz zu. Die Schweiz hat eine ganz besondere kontinuierlicheTradition der direkten Demokratie und verfügt über eine Kultur von Volksabstimmungen die weit in die Vergangenheit zurückreicht. Eine solche Kulturtradition gibt es bei uns nicht, dagegen hat sich bei uns nach dem 2. Weltkrieg eine Tradition repräsentativer Demokratie mit kommunalen Elementen der direkten Bürgerbeteiligung etabliert. Und deshalb bin ich der Meinung, dass eine „Übertragung des Schweizer Systems der Bürgerbeteiligung“ auf unser Land weder wünschenswert noch sinnvoll ist. Ich bin persönlich von den Vorteilen unserer repräsentativen Demokratie absolut überzeugt und möchte deshalb an ihr festhalten.
3. Ihrem Eindruck möchte ich widersprechen. Natürlich sind die Wählerinnen und Wähler in der Lage ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Dazu haben sie im nächsten Jahr wieder die Möglichkeit mit der Landtagswahl eine Richtungsentscheidung für unser Land zu treffen. Davon völlig unabhängig habe ich Ihnen in den ersten beiden Abschnitten dargelegt, warum ich unsere Repräsentative Demokratie für das geeignetere Mittel halte, um in den oftmals sehr komplexen Fragen der Landespolitik die richtigen Antworten zu finden. Wobei die Entscheidungsfindung auch uns Abgeordneten die sehr viel Zeit mit der Thematik verbringen nicht immer leicht fällt.
4. Ich stimme Ihrer Aussage natürlich vollen Herzens zu. Das Volk des Landes Baden-Württemberg stellt den Souverän der seine Macht unseren Volksvertretern und der Regierung leiht. Dabei ist es unsere Aufgabe sorgsam mit dieser geliehenen Macht umzugehen und möglichst gerechte und vernünftige Entscheidungen zu treffen um Schaden und negative Konsequenzen zu vermeiden. Diese manchmal auch schwierige Aufgabe nehme ich gerne wahr und setze mich mit aller Kraft für das Wohl unserer Gemeinschaft und der Bürgerinnen und Bürger ein.
Man kann sicherlich unterschiedlicher Ansicht in der Frage der Ausgestaltung unserer Demokratie und der direkten Bürgerbeteiligung sein. Die Entscheidung für die in der Verfassung festgelegte Gestalt unseres Staates ist letztlich eine Entscheidung die auf einem demokratischen Entscheid der Bürgerinnen und Bürger basiert. Demokratie lebt aber eben gerade auch vom Widerstreit unterschiedlicher Ansichten.
Herzliche Grüße
Klaus Schüle