Frage an Krista Sager bezüglich Jugend

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Krista Sager
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Frage von Jürgen K. •

Frage an Krista Sager von Jürgen K. bezüglich Jugend

Guten Tag sehr verehrte Frau Sager,

anläßlich der Durchführung des 2. bundesweiten Aktionstag gegen Kindesmissbrauch in Hamburg am 13.5.2006 reagierten die eingeladenen Vertreter der politischen Parteien, der Kirchen und der Verwaltungseinheiten unisono mit Schweigen, Gleichgültigkeit und umfassenden Desinteresse. Das Interesse der Medien tendierte seinerzeit fast gegen Null. Einzig der damalige SPD-Vorsitzende Petersen erschien, wenn auch nur mit einem blitzartigen Erscheinen und wieder Verschwinden.

Heute kolportiert das Hamburger Abendblatt über die Aushebung eines Ringes von Päderasten, Pädophilen und Sexualsadisten in Hamburg.

Halten Sie es für möglich, dass sich in Hamburg faktisch eines der Zentren der international tätigen Kindesmissbrauchskreise etabliert hat und dass dies auf das faktische Desinteresse - aus welchen Gründen auch immer - zurück zuführen ist.

Halten Sie es für möglich, dass es Zusammenhänge gibt, die diese strukturelle Tabuisierung des Phänomens Kinderhandel und Kindesmissbrauchs die Deckung der in Hamburg existierenden sexuellen und sadistischen Misshandlungsbedürnisse befördert? Und halten Sie es für möglich, dass die existierenden politischen, administrativen und auch kirchlichen Verdrängungsreflexe neben den psychologischen Verdrängungsreflexen auch noch sozio-ökonomische Faktoren gibt, die eine aktive und pragmatische Entdeckung dieses Phänomens in Hamburg ver- bzw. behindern?

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Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Klinger,

kommerzielle sexuelle Gewalt und Ausbeutung sind eines der schlimmsten Verbrechen an Kindern und Jugendlichen. Mädchen und Jungen werden für Prostitution und Pornografie missbraucht, verkauft und in sklavenähnlichen Zuständen gehalten.
Nach Schätzungen werden etwa 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche weltweit als Prostituierte oder Pornodarsteller missbraucht - bei vermutlich hoher Dunkelziffer.
Nach Schätzungen von Unicef werden mit Kinderprostitution, Kinderpornografie und dem damit im Zusammenhang stehenden Kinderhandel jährlich weltweit 5,62 Milliarden Euro umgesetzt. Lukrativer als der Handel mit Kindern ist nur der mit Waffen und Drogen.
Und Kinderprostitution, Kinderhandel und Kinderpornografie kommen auch in oder vermittelt über Hamburg vor.

Ich möchte an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass die weitaus meisten Fälle von Kindesmissbrauch hinter verschlossenen Türen zu Hause stattfinden und die Täter meist aus dem familiären Umfeld kommen, die Fälle sind oft nicht minder erschütternd und schockierend und fordern Politik und Gesellschaft ebenso heraus wie die kommerzielle sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.

Wenn wir also über erfolgreichen Opferschutz reden, müssen wir alle Opfergruppen betrachten, uns genau fragen, welche Institution sinnvoller Weise jeweils aktiv werden muss, welche Erfolge wir dann erwarten können und was verbessert werden kann.

Sie fragen zum einen nach der internationalen Dimension des Themas, ob ich es für möglich halte, dass sich in Hamburg eines der "Zentren der international tätigen Kindesmissbrauchskreise" etabliert habe.

Diese Frage wie auch die anschließenden kann ich selbst nicht beantworten. Ich stimme Ihnen aber zu, wenn Sie argumentieren, dass den Kindern nur durch einen offensiven und die Öffentlichkeit suchenden Umgang geholfen werden kann.

In Hamburg befassen sich Innenbehörde und Justiz mit dem Thema. Meine Nachfrage dort ergab den Eindruck ist, dass man sich in Hamburg der Probleme bewusst ist und dass mit großem Einsatz und durchaus erfolgreich gearbeitet wird.

Die Hamburger Innenbehörde wies zunächst darauf hin, "dass Ermittlungen im Bereich der sogenannten "Kinderpornografie", also im Bereich schwerer Delikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen mit dem Kontext Film-/Fotoaufnahmen, Einstellungen in das Internet, häufig Täterzusammenhänge auf der sogenannten "Konsumentenseite" mit internationaler Ausrichtung ergeben (...)".
Die Erfolge in der Bekämpfung dieser Deliktsform, unter anderem aufgrund der Ermittlungen der Deutschen Polizei, seien bemerkenswert.
Schleuser-Organisationen seien in diesem Kontext in Hamburg nicht bekannt geworden.
Die Behörde gesteht aber auch ein, dass "im Bereich der Sexualdelikte aber (...) sowohl im Allgemeinen als auch in Bezug auf die Delikte zum Nachteil von Kindern ein beträchtliches Dunkelfeld vermutet werde."

Sie teilt für Hamburg diese Opfer-Zahlen (betreffend Opfer von Sexualdelikten insgesamt) mit:

2007 wurden insgesamt 1416 Personen in Hamburg Opfer von Sexualdelikten,
davon waren 1173 (82,8%) weiblich, von den weiblichen Opfern waren wiederum 298 (25,4%) Kinder,
243 der Opfer waren männlich, unter den männlichen Opfern waren 92 (37,9%) Kinder.

2006 wurden insgesamt 1562 Personen in Hamburg Opfer von Sexualdelikten,
davon waren 1377 (88,2%) weiblich, von den weiblichen Opfern waren 339 (24,6%) Kinder,
185 der Opfer waren männlich, unter den männlichen Opfern waren 95 (51,4 %) Kinder.

2005 wurden insgesamt 1633 Personen in Hamburg Opfer von Sexualdelikten,
davon waren 1463 (89,6%) weiblich, von den weiblichen Opfern waren 364 (24,9%) Kinder,
170 der Opfer waren männlich, unter den männlichen Opfern waren 92 (54,1%) Kinder

2004 wurden insgesamt 1690 Personen in Hamburg Opfer von Sexualdelikten,
davon waren 1512 (89,5%) weiblich, von den weiblichen Opfern waren 414 (27,4%) Kinder,
178 der Opfer waren männlich, von den männlichen Opfern waren 116 (65,2%) Kinder.

2003 wurden insgesamt 1488 Personen in Hamburg Opfer von Sexualdelikten,
davon waren 1336 (89,8%) weiblich, von den weiblichen Opfern: 389 (29,1%) Kinder,
152 der Opfer waren männlich, von den männlichen Opfern waren 98 (64,5%) Kinder.

Polizei und Justiz in Hamburg seien bei Prävention und auch im Bereich der Strafverfolgung durchaus erfolgreich.

Dennoch verdient die internationale Dimension des Kindesmissbrauchs, da gebe ich Ihnen Recht, insgesamt größere Aufmerksamkeit.

Bündnis 90/Die Grünen fordern, die Zusammenarbeit von Bund und Ländern, die internationale Zusammenarbeit, die Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen und die Stärkung der Zivilgesellschaft intensiver, verbindlicher und koordinierter zu verfolgen. Darüber hinaus bedarf es einer fundierten Forschung in diesem Bereich sowie endlich einer systematischen Erfassung des Problemfelds kommerzielle sexuelle Ausbeutung. Sowohl im nationalen als auch im internationalen Kontext braucht es eine gute Aus- und Weiterbildung für Personen, die mit traumatisierten Kindern umgehen.
Der Schutz der Opfer und deren Reintegration müssen stärkeres Gewicht bekommen. Die bisherigen Ansätze reichen bei weitem nicht aus.

Die rot-grüne Bundesregierung hatte zur Bekämpfung der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen wesentliche Schritte unternommen. Zentrales Instrument der Bundesregierung war u.a. der Aktionsplan der zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung, den die Bundesregierung 2003 verabschiedete.

Seit dem Regierungswechsel 2005 gibt es jedoch einen Bruch in der Politik: Projekte wurden nicht weitergeführt, die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans ist ins Stocken geraten und neue Ansätze auf dem Gebiet fehlen.
Beispielgebend dafür, wie wenig Bedeutung dieses Thema aus Sicht der derzeitigen Familienministerin hat, ist auch ihre Abwesenheit beim III. Weltkongress gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern, der vom 25. bis zum 28. November in Rio de Janeiro stattfand. Sieben Jahre nach dem letzten Weltkongress war dieses Treffen das erste globale Forum für Regierungen und Nichtregierungsorganisationen, um die Strategien gegen sexuelle Ausbeutung auszuwerten und verstärkt grenzüberschreitende Schritte für bessere Prävention, Kinderschutz und Strafverfolgung zu vereinbaren.
Die kinderpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Ekin Deligöz, war als Mitglied der deutschen Delegation in Rio vor Ort.

In der Folge der Konferenz wollen sehr viele Staaten jetzt sexuellen Missbrauch nicht mehr dulden und ihn bekämpfen. Wenn jetzt islamisch-arabische Staaten sagen, sie sind gegen Minderjährigen-Heirat, dann hat sich etwas getan. Auch die Frage bis zu welchem Alter wir von sexuellem Missbrauch sprechen, wurde auf der letzten Konferenz noch strittig diskutiert. Jetzt haben sich die Teilnehmerstaaten auf 18 Jahre geeinigt. Das ist ein Fortschritt. Dabei muss man bedenken, dass der Kinderhandel der zweitgrößte Markt weltweit ist, gleich hinter Waffenhandel.
Die Tourismusindustrie will sich jetzt verpflichten, gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen vorzugehen, etwa indem sie ihre Mitarbeiter schult und sexuellen Missbrauch in ihren Hotels nicht mehr zulässt.

Das sind wichtige Schritte auf einem langen Weg.

Die Bundesregierung sollte jetzt endlich die Beschlüsse des Bundestages umsetzen und auch die Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen.
Im Interesse des Kindeswohls aller hier lebenden Kinder sowie um einer glaubwürdigen Kinderpolitik Willen ist die Aufrechterhaltung der Vorbehaltserklärung nicht vertretbar.

Für das Thema Kindesmissbrauch in Hamburg, das Sie ebenfalls ansprechen, ist die zuständige Hamburger Fachbehörde, die Behörde für Soziales und Gesundheit, die ihre Aktivitäten zum Opferschutz vor allem auch aufgrund der politischen Initiative der Hamburger GAL mit Blick auf diese Delikte im letzten Jahrzehnt verbessert hat, die richtige Ansprechpartnerin:

Dazu möchte ich Sie auf diese Adressen verweisen:
http://www.hamburg.de/zwangsprostitution/
http://www.hamburg.de/sexuelle-gewalt/

Besonders hervorheben möchte ich das Angebot des Instituts für Rechtsmedizin (Kontakt zu finden unter dem Link "sexuelle-gewalt") für Opfer sexueller Gewalt, einschlägige Verletzungen zu dokumentieren und entsprechende Beweismittel für das Strafverfahren und zivilrechtliche Ansprüche dadurch zu gewährleisten.

In Hamburg gibt es inzwischen einen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kinder, der an den Nationalen Aktionsplan anknüpft.

Die oben angeführten Zahlen zeigen jedoch, dass auf diesem Gebiet noch viel zu tun ist, sie sind auch Beleg dafür, wie schwer es ist, trotz ernstgemeinter Aktivitäten wirklich etwas zu erreichen.

Die Grünen im Bund und in Hamburg haben die von Ihnen angesprochenen Themen immer wieder angesprochen und werden das weiter tun und darauf drängen, dass Strafverfolgung und Prävention weiter gestärkt werden.
Ich bin davon überzeugt, dass nur ein offensiver Umgang und ständiges Wachrufen der Fakten weiterhelfen. Ein Klima des Schweigens und Negierens befördert solche Taten - weshalb wir eben immer wieder darauf hinweisen und Öffentlichkeit herstellen müssen.

Auch Ihr Schreiben hat dazu einen Beitrag geleistet.

Mit freundlichen Grüßen

Krista Sager