Frage an Matthi Bolte bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Matthi Bolte
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Anna W. •

Frage an Matthi Bolte von Anna W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Bolte,

mein Name ist Anna Wehrheim und ich bin Schülerin der 12 Klasse des Gymnasiums am Römerkastell in Alzey. Im Rahmen meiner Facharbeit "Von der Politikverdrossenheit der Bürger zur Bürgerverdrossenheit der Politiker- Befindet sich die repräsentative Demokratie in der Krise?" beschäftige ich mich unter anderem mit der sich wandelnden Protestkultur in unserem Land und interessiere mich deshalb für Stimmen von Bürgern und Politkern zu ihrem subjektiven Empfinden des Verhältnisses von den Regierenden zu den Regierten.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich in meiner Arbeit unterstützen könnten, indem Sie den angehängten Fragebogen beantworten.
Schon jetzt vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe.

Mit freundlichen Grüßen

Anna Wehrheim

1) Wie bewerten Sie die aktuelle Protestkultur in Deutschland, im Hinblick auf die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und die Proteste gegen Castortransporte?

2) Wie bewerten Sie die momentan praktizierte Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit?

3) Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um diese Kommunikation in Zukunft aufrechtzuerhalten, beziehungsweise zu verbessern?

4) Halten Sie persönlich Volksentscheide auf Bundes- und/ oder Länderebene für sinnvoll?

5) Haben Sie alternative Vorschläge, die Bürger besser in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden und die Akzeptanz der Bevölkerung für bereits getroffene Entscheidungen zu erhöhen?

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Wehrheim,

herzlichen Dank für Ihre Anfrage. Ich hoffe, Ihnen mit meinen Antworten weiterhelfen zu können und wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer spannenden Facharbeit.

1) Wie bewerten Sie die aktuelle Protestkultur in Deutschland, im Hinblick auf die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und die Proteste gegen Castortransporte?

Im Hinblick auf die Proteste gegen die Castortransporte im Wendland bin ich der Ansicht, dass diese ein wichtiges Zeichen der breiten Bevölkerung gegen die Politik der Bundesregierung waren. Der Atomkonsens, den die schwarz-gelbe Regierung nun wieder aufgehoben hat, war nicht ein Konsens zwischen der Politik und der Stromwirtschaft, sondern eine gesellschaftlich getragene Entscheidung. Die deutliche Mehrheit der Bevölkerung ist gegen die Laufzeitverlängerung. Die jetzige Bundesregierung hat nicht nur die Position der Menschen im Land zugunsten eines schmutzigen Deals mit der Atomwirtschaft ignoriert, sondern auch den Bundesrat und damit die Länder umgangen und so meines Erachtens verfassungswidrig gehandelt. Die Bevölkerung hat durch die Proteste ihren Unmut kund getan und der Bundesregierung deutlich aufgezeigt, dass sie die Ignoranz gegenüber den demokratischen Entscheidungsstrukturen, und damit gegenüber den WählerInnen selbst, nicht akzeptieren wollen. Es ist die verfehlte Politik der Bundesregierung, die die Menschen in Massen auf die Straße getrieben hat.

Bei Stuttgart 21 gab es große Fehler im Planungsverfahren: Die Menschen wurden zu spät beteiligt und offensichtliche Unklarheiten und Ungereimtheiten des Projekts konnten nicht ausgeräumt werden. In diesem konkreten Fall kommt hinzu, dass der Gigantismus, der hinter diesem Projekt steht, zu Recht von vielen Menschen in Frage gestellt wird, da günstigere, umweltverträglichere und angemessenere Lösungen wie K21 zur Verfügung stehen.

2) Wie bewerten Sie die momentan praktizierte Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit?

Ich sehe noch zu viel Ein-Kanal-Kommunikation: Viele ParlamentarierInnen – gerade aus den großen Fraktionen – sind nicht in ausreichendem Maß bereit, Anregungen von Außen, insbesondere aus der „Normalbevölkerung“ aufzunehmen. Dies zu verbessern, bietet besonders das Internet große Möglichkeiten, die aber noch lange nicht von allen genutzt werden – wie man z.B. an vielen Profilen in sozialen Netzwerken oder an Mitmach- Angeboten, die nach dem Wahlkampf verwaisen, sieht. Transparenz entsteht im Dialog. Deshalb haben wir beispielsweise hier in NRW eine Initiative für offenes Regieren geplant.

3) Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um diese Kommunikation in Zukunft aufrechtzuerhalten, beziehungsweise zu verbessern?

Die Kommunikation zwischen dem Parlament und der Öffentlichkeit sollte auch für die Zukunft auf einer allgemein zugänglichen Plattform stattfinden und möglichst viele BürgerInnen erreichen. Dabei bietet sich natürlich besonders das Internet an. Seiten wie abgeordnetenwatch.de, die Sie ja auch für Ihre Kontaktaufnahme genutzt haben, sind ein guter Weg, um den BürgerInnen den direkten Kontakt zu ihren Abgeordneten zu ermöglichen und umgekehrt die Meinung der WählerInnen zu erfahren. Daneben ist es aber auch sinnvoll, wenn das Parlament selbst eine informative und leicht verständliche Homepage pflegt, die es den interessierten BürgerInnen leicht macht, relevante Themen zu finden und den jeweiligen Ansprechpartner zu erreichen. Auf diese Weise kann der Kontakt zwischen der Öffentlichkeit und den Parlamentsangehörigen auf einer unmittelbareren Ebene ablaufen, als dies durch herkömmliche Medien, wie den Zeitungen oder dem Fernsehen, möglich ist.

4) Halten Sie persönlich Volksentscheide auf Bundes- und/ oder Länderebene für sinnvoll?

Auf Landesebene ist es absolut sinnvoll, Volksentscheide zu erleichtern und zu fördern. Deshalb haben wir vor Kurzem das Gesetz zur Erleichterung von Volksbegehren in den Landtag eingebracht, mit dem wir es leichter machen wollen, ein Volksbegehren zum Erfolg zu führen. Denn das einzige Mal, dass in Nordrhein-Westfalen ein Volksbegehren erfolgreich war, war 1978 – ich war also noch gar nicht auf der Welt, als das passiert ist, und Sie vermutlich auch nicht. Und das, obwohl die Möglichkeit für Volksbegehren schon seit über 60 Jahren in NRW gegeben ist!

Auf Bundesebene sehe ich die Sache differenzierter: Ich glaube schon, dass es mehr direkter Demokratie bedarf, es gibt ja auch interessante Ansätze zur Bürgerbeteiligung, z.B. bei der Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ beim Bundestag. Auf der anderen Seite gibt es auf der Bundesebene Themen, die ich für Volksentscheide für ungeeignet erachte, z.B. Grundfragen der sozialen Sicherung oder der Steuersystematik. Hier sind viele komplexe Fragen, die man nur differenziert beantworten kann, was im Rahmen einer Abstimmung naturgemäß schwierig ist. Außerdem hätten solche Fragestellungen sehr weitreichende Auswirkungen auf andere Politikfelder, die unter den Bedingungen eines Volksentscheids vielleicht nicht vollständige Berücksichtigung finden würden. Aber wie gesagt: Ich bin grundsätzlich schon daran interessiert, auch auf Bundesebene mehr direkte Demokratie zu ermöglichen, würde mich allerdings nicht zu einem pauschalen „Ja und sofort“ hinreißen lassen.

5) Haben Sie alternative Vorschläge, die Bürger besser in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden und die Akzeptanz der Bevölkerung für bereits getroffene Entscheidungen zu erhöhen?

Insbesondere die Proteste gegen Stuttgart 21 haben meines Erachtens deutlich gemacht, dass sich die BürgerInnen bei solchen Großprojekten mehr beteiligen wollen. Neue Wege der Bürgerbeteiligung sind daher dringend notwendig. Kernbestandteil sollte hierbei sein, den Bürger früher als bisher die Möglichkeit zu geben, sich in Planungsprozesse einzubringen. Je besser die Menschen in die Planungsprozesse von Großprojekten eingebunden werden, desto größer ist letztendlich auch die Akzeptanz dieser Projekte. Das Großprojekt Stuttgart 21 hat grade deshalb zu großem Unmut geführt, weil über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg entschieden wurde – und weil es offensichtliche sachliche Mängel und Ungereimtheiten gab. Damit dies bei kommenden Großprojekten nicht wieder geschieht, sollten gesetzlich geregelte Möglichkeiten geschaffen werden, damit sich die Bevölkerung bereits zu Beginn in die Planung von Großprojekten einbringen kann.

Noch einmal viel Erfolg bei der Facharbeit!

Mit besten Grüßen

Matthi Bolte