Frage an Sevim Dağdelen bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Sevim Dağdelen
BSW
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Frage von Michael M. •

Frage an Sevim Dağdelen von Michael M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Dagdelen,

zur Rede von Ihrer Kollegin Kristina Köhler am 23.3.2007:
Sie bestreiten den eskalierenden deutschenfeindlich-kriminellen Rassismus.

Wie lautet Ihre Stellungnahme zu diesem abstoßenden Geschehen: Ein gewalttätiger 50köpfiger Lynchmob hetzt ein junges deutsches Pärchen, welches nur von massiven Polizeikräften vor dem Schlimmsten bewahrt werden kann.

Quelle:
http://www.focus.de/panorama/welt/migranten-gewalt_aid_125798.html

Auszüge:

» Migranten-Gewalt
Täglicher Terror auf Berlins Straßen
...
„Ihr lebt nicht mehr lange, wir schlitzen euch deutsche Schweine auf!“
...
„Wir bringen euch um, ihr deutschen Drecksschweine!
Das ist unser Bezirk, verpisst euch!“
...
Für die Verkäuferinnen sind solche Beschimpfungen Alltag:
„Gerade die jungen Ausländer beleidigen uns ständig“, sagt Melanie Dayan.
Manchmal reiche es, wenn ein Artikel ausverkauft sei. ... «

Erkennen Sie hier nicht rassistisch-kriminellen Deutschenhaß?
Wie lautet Ihre Stellungnahme zu den im FOCUS-Beitrag geschilderten
bedrückenden, alarmierenden Straftaten?

Mit freundlichen Grüßen

Michael W. Matthes

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Antwort von
BSW

Sehr geehrter Herr Matthes,

vorab eine Richtigstellung. Frau Köhler hat in ihrer Rede behauptet, dass sich die Begründung unseres Antrages lediglich auf MigrantInnen als Opfer bezieht. Das entspricht nicht der Wahrheit. Wir haben folgendes angeführt: „Die alltäglichen Überfälle, Angriffe, Diskriminierungen und verbalen Attacken, denen Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer körperlichen Merkmale, ihres Geschlechts, ihrer sozialen Stellung, sexuellen Orientierung und anderer Merkmale ausgesetzt sind, werden nur noch am Rande zur Kenntnis genommen.“ In diesem Zusammenhang habe ich in meiner Rede darauf hingewiesen, dass täglich Menschen wegen ihrer Herkunft oder ihres Aussehens bedroht, diskriminiert und tätlich angegriffen werden. „Doch das ist nicht alles: „Unabhängige Stellen gehen von mehr als 130 Todesopfern rassistischer Gewalt seit 1990 aus.“ Wo bitte ist hier ausschließlich von MigrantInnen die Rede. Vielmehr ist mit dem Verweis auf die Statistik der Todesopfer klar, dass es hier neben MigrantInnen auch um politisch Andersdenkende, Schwule, Lesben, Transgender, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose oder einfach Menschen, die anders aussehen geht. Denn Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, das überall dort besonders zu Geltung kommt, wo Menschen bei der Ungleichverteilung sozialer Ressourcen und politischer Rechte gegeneinander ausgespielt werden. Insofern ist es nur logisch, dass es auch unter MigrantInnen Rassismus gibt.

Rassismus ist auf ein Klima angewiesen, das von Ignoranz und Entsolidarisierung gegenüber sozialökonomisch und politisch ausgegrenzten Personen und Personengruppen geprägt ist. Verdrängungsprozesse im Zuge der Privatisierung öffentlicher Räume, die faktisch zu „no-go-areas“ für Obdachlose, Drogenabhängige, MigrantInnen etc. führen, werden mittlerweile als „normal“ empfunden. Sichtbar Arme, Obdachlose und bettelnde Menschen „stören“ in der Öffentlichkeit. Polizeiliche und ordnungspolitische Maßnahmen zur Durchsetzung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und zur Aufrechterhaltung eines „ordentlichen und sauberen Images“ sind Teil einer staatlich sanktionierten Ausgrenzungsstrategie. Und diese will die CDU eben gerade nicht thematisieren. Ich kritisiere nach wie vor, dass der Beitrag von Frau Köhler wie insgesamt die Debatte der CDU/CSU am Thema vorbei geht. Denn bei unserem Antrag geht es um die Zusage der Bundesregierung von 2001 auf der „Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz“, „im Benehmen mit den nationalen Menschenrechtsinstitutionen, anderen durch Gesetz geschaffenen Institutionen zur Bekämpfung des Rassismus und mit der Zivilgesellschaft Aktionspläne auszuarbeiten (…)“ und vorzulegen. Und das hat sie bis heute nicht getan. Da hilft auch der Verweis auf Aktivitäten gegen Rechtsextremismus nichts. Antirassistische Politik darf sich nicht auf den Kampf gegen Nazis beschränken. Nicht jede/r Rassist/in ist Nazi, aber jeder Nazi ist Rassist/in! Genau das wird aber von Frau Köhler unter den Teppich gekehrt, wenn sie Rassismus auf „Rechtsextreme“ reduziert.

Rassismus beginnt bereits da, wo Menschen wegen ihres Aussehens und ihrer sozio-kulturellen Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen oder religiösen Orientierung, gleiche Rechte und Möglichkeiten vorenthalten werden. Als symptomatisches Beispiel dafür, wie rassistische Logiken befördert und legitimiert werden, habe ich dann den Umgang mit Flüchtlingen in der BRD, etwa bei der Aufnahme, im Verfahren, bei der sozialen Versorgung und im gesamten System der Abschiebepraxis, als Spiegelbild eines gesellschaftlich weit verbreiteten und akzeptierten Rassismus angeführt. Rassismus ist auch ein Instrumentarium in der Politik. Er kommt dann zum Zuge, wenn Menschen aus der Gesellschaft ausgegrenzt und diskriminiert werden sollen. Diese diskriminierende Politik beeinflusst die Sicht- und Denkweise sowie das Verhalten der Menschen und führt im Alltag zu diskriminierenden Praktiken bspw. auf dem Wohnungs-, Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Aktuelles Beispiel für Rassismus im öffentlichen Diskurs ist die Debatte von „gefährlichen und das Sozialsystem ausnützenden Ausländern“ und „nützlichen Fachkräften“.

Menschen, die seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik leben oder gar hier geboren sind, aber wie BürgerInnen zweiter Klasse behandelt werden, indem ihnen gleiche Rechte verweigert, sie für soziale Konflikte in der Gesellschaft verantwortlich gemacht und durch rassistische Stigmatisierungen per se autoritäre, sexistische und fundamentalistische Grundhaltungen und Verhaltensweisen unterstellt und als „terroristische“ Bedrohung kriminalisiert werden, trägt entscheidend zum Rassismus bei MigrantInnen bei. Diese kollektiven Zuschreibungen befördern tradierte rassistische Stereotype. Sie zementieren eine Wahrnehmung, die die reale rechtliche und soziale Schlechterstellung von Menschen als Folge ihres vermeintlich persönlichen Unvermögens verstehen lassen.

Soll Rassismus, von wem auch immer und gegen wen auch immer, tatsächlich bekämpft werden, muss die Bundesregierung ihre „Vorbildwirkung“ durch eine entsprechend antirassistische Politik wahrnehmen. Die Grundlage dafür muss ein Konzept sein, sich sowohl dem institutionellen als auch den individuellen Rassismus stellt. Genau das hat die Bundesregierung 2001 zugesagt und nicht mehr und nicht weniger fordern wir ein.

Mit freundlichen Grüßen

Sevim Dagdelen

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