Frage an Sevim Dağdelen bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Sevim Dağdelen
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Frage von Ursula N. •

Frage an Sevim Dağdelen von Ursula N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Dagdelen,

noch immer warte ich auf eine Antwort auf meine Frage vom 23.10.07 und hoffe, dass Sie nicht erst im Jahr 2009 auf mich zukommen werden, wenn der Wähler wieder für die Parteien interessant wird.

Ich bitte nochmals um Beantwortung meiner Frage, ob die Eltern die Kosten für Sprachkurse zum Erlernen der deutschen Sprache für ihre Kinder selber tragen müssen oder ob diese von der Allgemeinheit getragen werden?

Mit freundlichen Grüßen
Ursula Nurkowski

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Sehr geehrte Frau Nurkowski,

bei Ihrer Frage entsteht der Eindruck, als hätten die Eltern oder gar die Kinder mit Migrationshintergrund selbst Schuld an dem Umstand, dass sie z.T. schlechte oder geringe Kenntnisse der deutschen Sprache vorweisen. Dabei hängt Bildung nach wie vor bzw. zunehmend wieder stärker von der sozialen Herkunft ab. Die 1. Generation der Migrantinnen und Migranten erhielt im Übrigen auch kaum Angebote, die deutsche Sprache zu erlernen. Zum einen war dies staatlicherseits gar nicht gewünscht, denn diese Arbeitersmigrant(inn)en sollten ja möglichst nach getaner Arbeit wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Zum anderen handelte es sich bei vielen Migrantinnen und Migranten um Arbeiter/innen für „Einfacharbeitsplätzen“, die über eine eher geringere Schul- und Berufsausbildung, meist einen niedrigen Berufsstatus verfügen. In diesem Zusammenhang muss aber darauf verwiesen werden, dass in den sozial benachteiligten Schichten die Kinder allesamt nahezu gleich schlecht sprechen und zwar unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit bzw. soziokulturellen Herkunft. Erst später differenziert sich dies stärker aus. Viele jugendliche Migrant(inn)en der 2. und 3. Generation sind allerdings der deutschen Sprache (und häufig noch anderer Sprachen) mächtig, werden aber in Bildung, Arbeitsmarkt und sozialem Alltag dennoch benachteiligt, was zu entsprechenden Arbeitslosenzahlen führt. Und dafür ist eben nicht eine von Ihnen unterstellte Integrationsunwilligkeit verantwortlich.

Wir haben ein Wirtschaftssystem, das soziale Ungerechtigkeit hervorbringt und in dem vielen Menschen auch gute Sprachkenntnisse wenig nützen. Wir haben ein Bildungssystem, in dem Kinder und Jugendliche wie sonst nirgends auf der Welt aufgrund von sozialkultureller Herkunft benachteiligt werden. Die gerade veröffentlichten jüngsten PISA-Ergebnisse für 2006 zeigen dies besonders deutlich.

Ich bin der Auffassung, dass der zentrale Glaubenssatz der deutschen Integrationspolitik, dass das Erlernen der deutschen Sprache der Schlüssel zur Integration sei, falsch ist. Die Priorisierung des Erwerbs von Deutschkenntnissen stellt die Migrantinnen und Migranten nach wie vor unter den Verdacht der „Integrationsverweigerung“ und negiert institutionellen Rassismus, Diskriminierungen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt. Ohne Zweifel schadet es nicht, die deutsche Sprache zu lernen und zu beherrschen. Aber primär wäre es nötig, nicht nur Chancengleichheit, sondern Gleichstellung im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt zu verwirklichen. Das ist nicht allein eine Bringschuld von Migrantinnen Migranten in Form von Sprachkompetenz, sondern das ist eine Frage von Bedingungen und Strukturen, die eben auch zur Debatte stehen müssen. Wir sind als DIE LINKE. der Meinung, dass sich durch ein verändertes Bildungssystem auch die Sprachkompetenzen der Migrantinnen und Migranten und generell der Schüler/innen verbessern ließen. Es bedarf einer systematischen und kontinuierlichen Sprachförderung, die vorhandene Fähigkeiten und Ressourcen (einschließlich der Familiensprache/n) möglichst umfassend berücksichtigt.

Zu diesen notwendigen Änderungen gehört das Angebot gebührenfreier Krippen und Kindertagesstätten. Wer die sprachliche Entwicklung von Kindern mit sog. Migrationshintergrund wirklich verbessern will, muss sich für einen Rechtsanspruch auf kostenlose Kita- und Kindergartenplätze einsetzen, und dies nicht erst ab drei Jahren, sondern bei Bedarf auch schon früher. Uns geht es dabei nicht um irgendwelche Sprachkurse. Es müssen Förderkonzepte entwickeln werden, um auch den Eltern qualitative Informationen über die Entwicklungsprozesse ihres Kindes geben zu können. D.h. die Eltern müssen in diesem Prozess einbezogen und unterstützt werden.

Sprachkurse, wie Sie sie vermutlich meinen, bestehen im Rahmen des verbindlichen Integrationskursangebots. Diese werden sog. Neuzuwandernden, aber kaum bereits hier lebenden Migrantinnen und Migranten angeboten. Zu Ihrer Frage der Kosten und wer diese zu tragen hat soviel: Bildung ist Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie und muss daher allen gesellschaftlichen Schichten, die in der Bundesrepublik leben zugänglich sein. Die Kosten für die Sprachkurse müssen die Teilnehmer/innen mit finanzieren. Wir sind aber der Meinung, dass die Teilnahmegebühren für Geringverdiener/innen gesenkt bzw. abgeschafft werden muss, um die Teilnahme möglich zu machen. Darüber hinaus gilt es den Personenkreis mit einem Rechts­anspruch auf die seit langem in der Bundesrepublik lebenden Flüchtlinge mit Duldung, Asylsuchenden und Menschen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus zu erweitern. Geld ist dafür auch da. Es müsste nur anders verteilt werden. Beispielsweise durch eine Vermögenssteuerung und/oder die Abschaffung von Steuerprivilegien. Statt in Rüstungsforschung und Militäreinsätze, sollte das Geld lieber in zusätzliche Lehrkräfte oder Lehrmittelfreiheit investiert werden.

Mit freundlichen Grüßen

Sevim Dagdelen

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