Können Sie bitte Ihre "Enthaltung" bei der Frage nach der Abschaffung/dem Erhalt des zweigliedrigen Krankenkassensystems beim Kandidierendencheck begründen? Insb. was spricht gegen die Abschaffung?

Udo Wolf
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Frage von Johannes S. •

Können Sie bitte Ihre "Enthaltung" bei der Frage nach der Abschaffung/dem Erhalt des zweigliedrigen Krankenkassensystems beim Kandidierendencheck begründen? Insb. was spricht gegen die Abschaffung?

Udo Wolf
Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr S.,

leider war im besagten Kandidierendencheck nur mit ja, nein oder Enthaltung (neutral) zu den Fragen zu antworten. Ich möchte selbstverständlich eine gesetzliche Krankenversicherung für alle. Eine Bürgerversicherung für alle hätte viele Vorteile, sowohl für die Versicherten als auch für das Gemeinwesen. Der Prozess dahin ist allerdings kompliziert und bietet einige rechtliche und verfassungsrechtliche Probleme, die beachtet werden müssen. Deshalb brauchen wir eine Überführungsstratgie. Ich dokumentiere hier einen Antrag meiner Bundestagsfraktion aus dieser Legislaturperiode, die diesem komplizierten Erfordernissen Rechnung trägt und leider mit der Regierungsmehrheit abgelehnt wurde. Sie können sicher sein, dass wir in der Zukunft in der Richtung dieses Antrages weiterarbeiten werden. Ich bin guter Hoffnung dass eine rot-rot-grüne Mehrheit sich diesen Anliegens positiv annehmen wird, eine Regierung unter Einschluss von FDP oder CDU sicher nicht.

“Deutscher Bundestag Drucksache 19/9229
19. Wahlperiode
Antrag
der Abgeordneten Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, Sylvia Gabelmann, Katja Kipping, Jan Korte, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Jessica Tatti, Harald Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau), Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.
Ein System für alle – Privatversicherte in gesetzliche Krankenversicherung überführen
Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die private Krankenversicherung (PKV) verstößt gegen das Prinzip der Solidarität, das für unser Sozialsystem grundlegend ist. Sie muss abgeschafft werden, um die Zwei- Klassen-Medizin zu überwinden.
Das Nebeneinander von gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) und PKV ist die Ursache für den ungleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Weil Ärztinnen und Ärzte bei gleicher Leistung für Privatversicherte viel höhere Vergütungen bekommen, erhalten Privatversicherte früher einen Termin. Ärztinnen und Ärzte lassen sich bevor- zugt in wirtschaftsstarken Regionen mit vielen Privatversicherten nieder. Das ist eine der Ursachen für den Ärztemangel in ländlichen und wirtschaftsschwachen Regionen.
Für das Sozialversicherungssystem ist die PKV schädlich, weil sie es Besserverdie- nenden ermöglicht, sich der Solidargemeinschaft der GKV zu entziehen. Der GKV bleiben die unteren und mittleren Gehaltsgruppen. Auch innerhalb der PKV gibt es keine Solidarität zwischen Versicherten mit hohen und geringen Einkommen.
Weil die PKV für die gleiche Behandlung oft ein Vielfaches an Geld ausgibt, ist sie volkswirtschaftlich ineffizient. Außerdem fehlen in der PKV Regelungen, die die Be- handlung auf erwiesenermaßen nützliche Behandlungen begrenzen. Daher bezahlt sie auch unnötige, im schlimmsten Fall schädliche Behandlungen. Auch das aufwendige Vertriebsmodell der PKV treibt die Beiträge unnötig in die Höhe.
Für ältere Versicherte wird die PKV oft zur Kostenfalle. Die niedrigen Beiträge in jungen Jahren steigen im Alter auf Summen, die mit dem im Ruhestand sinkenden Einkommen nur schwer zu bezahlen sind.
Sinkende Versichertenzahlen und niedrige Zinsen stellen die Existenz der PKV in Frage. Zur Stabilisierung des gesamten Gesundheitssystems ist es unumgänglich, die PKV als Vollversicherung abzuschaffen.
09.04.2019

Drucksache 19/9229
– 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
 II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der unter Beachtung der folgenden Punkte zu einem bestimmten Stichtag die Private Krankenversicherung auf medizinisch nicht notwen- dige Zusatzversicherungen begrenzt.
1. Alle privat Krankenversicherten werden per Gesetz zu gesetzlich Versicherten. Die Versicherungspflichtgrenze (Jahresarbeitsentgeltgrenze) wird abgeschafft.
2. Die bisherige Beihilfe des Bundes wird zu einem Arbeitgeberbeitrag in der ge- setzlichen Krankenversicherung umgewandelt. Im Rahmen der freien Heilfür- sorge wird neben dem Arbeitgeberanteil auch der Arbeitnehmeranteil übernom- men. Der Bund versucht bei den Ländern und den übrigen beihilfezahlenden Kör- perschaften zu erwirken, dass diese zur Einheitlichkeit des Beihilferechts ähnli- che Regelungen einführen.
3. Die Alterungsrückstellungen in den Bilanzen der PKV sind aufzulösen. Im Ge- genzug haben die Unternehmen der PKV Ausgleichszahlungen an den Gesund- heitsfonds zu leisten. Diese Ausgleichszahlungen in Höhe der Alterungsrückstel- lungen werden in einen kollektiven Reservestock überführt. Der Grund für die Alterungsrückstellungen der PKV entfällt mit der Übertragung der Versicherten an die GKV, denn die GKV trägt in Zukunft das Alterungsrisiko dieser Versi- cherten.
4. Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) wird daraufhin überprüft, welche Regelungen aufgrund der Abschaffung der PKV wegfallen können, insbesondere die 9/10-Regelung und die Mindestbeitragsbemessung für freiwillig Versicherte.
5. Für Beschäftigte der PKV werden sozialverträgliche Übergänge geschaffen. Dies beinhaltet insbesondere die Umschulung in andere Berufe, beispielsweise für zu- sätzlich in der gesetzlichen Krankenversicherung benötigte Stellen.
Berlin, den 9. April 2019
Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Begründung
Zu 1.: Diese Forderung soll ein geordnetes Ende der PKV bewirken. Es ergäbe keinen Sinn, wie es von einigen Akteuren vorgeschlagen wird, die private Krankenversicherung (PKV) so abzuschaffen, indem man den Wechsel von privat zu gesetzlich innerhalb eines Zeitfensters freigibt und neuen Versicherten eine Pflichtversicherung in der GKV gesetzlich vorgibt. Denn dadurch würden nur diejenigen in die GKV wechseln, denen dies Vorteile bringt. Meist wären dies ältere Versicherte, wodurch zunächst die Solidarität in der GKV zugunsten der PKV missbraucht würde. Mittel- und langfristig würde die PKV jedoch „ausbluten“, was horrende Beitragssteigerun- gen und letztlich Insolvenzen der Versicherungsunternehmen bedeuten würde. Um ein solches ungeordnetes Ende der PKV zu vermeiden, ist einer gut vorbereiteten Stichtagsregelung der Vorzug zu geben und im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung auch geboten.
Diese gesetzliche Maßnahme schränkt Grundrechte in zulässiger Weise ein. Der Eingriff in die betroffenen Grundrechte, wie etwa Berufsfreiheit, Gewerbe- und Vertragsfreiheit ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Denn er rechtfertigt sich durch die überragend wichtigen Gemeinwohlbelange der Stabilität, der Funktionsfähig- keit und Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems (vgl. www.bundestag.de/resource/blob/543314/9718c94 eab41a8406e645cd6d5457caf/WD-9-058-17-pdf-data.pdf), die ihre Begründung im Sozialstaatsprinzip i. V. m. dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit finden. Die Abschaffung der PKV ist auch verhältnismäßig,

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 –
Drucksache 19/9229
 denn mildere Mittel, um die genannten Gemeinwohlbelange ebenso effektiv und zielführend zu erreichen, stehen nicht zur Verfügung
Zu 2.: Im Rahmen der Abschaffung der PKV müssen für beihilfeberechtigte Personen neue Regelungen getroffen werden. Wie bereits in Hamburg beschlossen und in anderen Bundesländern im Rahmen der Landesgesetzgebung als Wahlmöglichkeit beabsichtigt, ist es zweckmäßig, die bisherige Beihilfe in eine „pauschale Beihilfe“, also letztlich einen Arbeitgeberbeitrag umzuwandeln. Denn ein Festhalten an einer Restkostenversicherung im Rah- men der gesetzlichen Krankenversicherung wäre in einem Sachleistungssystem systemfremd und nicht begründ- bar. Lediglich die Zahlung des Beihilfeanteils der tatsächlich entstehenden Kosten der Behandlung der Beihilfe- berechtigten an die Krankenkassen statt eines Arbeitgeberanteils käme noch infrage, wäre aber aufgrund der Bürokratiekosten nicht zu bevorzugen.
Das Bundesverfassungsgericht hat zu den Beamten einige Feststellungen getroffen. So gehört das Alimentati- onsprinzip zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums. Es bedeutet die Verpflichtung, Beamtin- nen und Beamten und ihren Familien einen amtsangemessenen Unterhalt zu zahlen und beinhaltet die Fürsorge- pflicht des Dienstherrn. Das System der Beihilfegewährung hat sich erst in jüngster Zeit herausgebildet und ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht notwendiger Bestandteil des Alimentationsprinzips. Es könnte geändert werden, ohne dass Artikel 33 Absatz 5 des Grundgesetzes berührt wäre (BVerfG 83, 89). Eine verfas- sungsrechtliche Verpflichtung, Beamtinnen und Beamten im Krankheitsfall Unterstützung durch Beihilfen zu gewähren oder sogar in Form von Beihilfen in einer bestimmten Höhe, besteht nicht (BVerfG, 2 BvR 2442/94 vom 25.9.2001).
Zu 3.: Nach einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (WD des Deutschen Bundestages: „Verfassungsrechtliche Probleme bei der Abschaffung der privaten Krankenversicherung als Voll- versicherung“, 21.12.2010) begründen die Alterungsrückstellungen (AR) keinen individuellen Anspruch auf eine bestimmte Geldsumme, fallen also nicht unter den Eigentumsbegriff des Grundgesetzes. Alterungsrückstellun- gen stellen auch keine Anwartschaften dar, da Anwartschaften als rechtlich abgesicherte Erwartungen definiert sind. Die Alterungsrückstellungen müssten festgelegten Kriterien zur Beitragssenkung folgen. Sie stellen aber lediglich eine diffuse Beitragssenkung in Aussicht und begründen keinen individuellen Anspruch. Ein weiteres Rechtsgutachten zur Überführung der Alterungsrückstellungen in eine Bürgerversicherung kommt zu dem Er- gebnis, dass die Überführung der Alterungsrückstellungen verfassungsrechtlich möglich ist (Prof. Dr. Karl-Jür- gen Bieback, Die Einbeziehung der Alterungsrückstellungen der PKV in die erweiterte GKV – Rechtsgutachten zur Verwendung der Alterungsrückstellungen in einem Bürgerversicherungsmodell, 2006). Die Überführung ist geboten, weil die GKV das Alterungsrisiko von der PKV übernimmt, die dadurch von ihren Verpflichtungen freigestellt wird.
Zu 4.: Im SGB V gibt es viele Regelungen, die nur aufgrund des bislang dualen Versicherungssystems geschaffen wurden. Oft beinhalten sie Einschränkungen und Nachteile für Versicherte. Im Zuge des Gesetzgebungsprozesses ist das SGB V um diese Regelungen zu bereinigen.
Zu 5.: Die Abschaffung der PKV verringert auch die im Vergleich zur GKV immensen Verwaltungskosten dra- matisch. So hat beispielsweise die Techniker Krankenkasse alleine ähnlich viele Versicherte wie alle privaten Versicherungen zusammen und auch ein ähnlich hohes zu verwaltendes Beitragsaufkommen. Bei der Techniker Krankenkasse arbeiten 13.922 Beschäftigte (Januar 2019), bei der PKV wird je nachdem, ob man Versicherungs- agenturen mitzählt von 42.500 bis 68.000 Personen ausgegangen. Was sich positiv auf die Bürokratiekosten und damit auf die Versicherten auswirkt, bedeutet für viele der in diesem Bereich Beschäftigten den Verlust ihrer Arbeit. Dies ist von Anfang der Planungen an zu berücksichtigen. Den Beschäftigten der PKV sind durch ein Sonderprogramm soziale Sicherheit und Möglichkeiten einer Umschulung in andere Berufe zu ermöglichen.“

Mit freundlichen Grüßen 

Udo Wolf