Frage an Ulrich Goll bezüglich Soziale Sicherung

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Ulrich Goll
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Frage von Sybille K. •

Frage an Ulrich Goll von Sybille K. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Goll

Ich beziehe mein Schreiben an Sie, auf den heute zu lesenden Welt online Artikel: "FDP-Politiker bezeichnet Sarrazin als "Rattenfänger"".

Zunächst bin ich, sensibel ausgedrückt, befremdet über den Begriff "Rattenfänger" und fühle mich, als jene, die dieses bereits bestellte Buch lesen wird, beleidigt!

Durch die Titulierung "Rattenfänger" kann ich wohl auf mich die Bezeichnung "Ratte" ableiten!

In diesem Artikel ist zu lesen: Sarrazins Buch enthalte „den einen oder anderen gefährlichen Irrtum“.

Meine Bitte an Sie ist, diese Irrtümer zu benennen. Leider konnte ich nichts Erklärendes dazu in dem Artikel finden.

Mit freundlichen Grüssen
Sybille Kügel

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Antwort von
FDP

Sehr geehrte Frau Kügel,

für Ihre Anfrage auf diesem Portal danke ich Ihnen.
In der Sage des Rattenfängers von Hameln geht es um Menschen, die durch dessen betörendes Flötenspiel in den Bann gezogen werden. Meine Äußerung in diesem Zusammenhang zielte nicht darauf, einzelne Personen pauschal zu verurteilen. Es sollte verdeutlicht werden, welche Attraktivität scheinbar einfache Lösungen und Zuschreibungen besitzen.

Meine Kritik an Aussagen und Buchthesen Thilo Sarrazins ist vielfältig. Besonders problematisch an den Aussagen ist, dass Sarrazin über die genetischen Grundlagen der Intelligenz sowie die Koppelung von Bildungsferne und Fruchtbarkeit spricht. Das ist wissenschaftlich - entgegen seiner Behauptung - gerade nicht belegt. Für ernstgemeinte und sachliche Analysen, nicht nur im Bereich Integration, ist es unabdingbar, auf Entwicklungen - positive wie negative - hinzuweisen und dabei auch Potentiale für unsere Gesellschaft aufzuzeigen. Das macht Herr Sarrazin nicht. Er zeigt in seinem Buch sehr viele Fakten auf und beruft sich auf Statistiken. Er verschweigt hierbei jedoch wichtige Tatsachen.

Eine Kernaussage von Thilo Sarrazin ist, dass sich muslimische Migranten deutlich schlechter als andere Gruppen von Migranten integrieren würden. Die Ursachen hierfür lägen in der "Kultur des Islam", die diese Migranten hindere, Qualifikationsdefizite zu kompensieren. Dass zwar der Bildungsgrad beispielsweise bei der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland niedrig ist (nur 7,8 Prozent besitzen die Hochschulreife), jedoch Zuwanderer aus den ebenfalls muslimischen Ländern Afghanistan, Iran und Irak eine überdurchschnittlich hohe Bildung besitzen (fast jeder Dritte hat hier Abitur), legt den Schluss nahe, dass die Bildungssituation weniger mit "dem Islam" als vielmehr mit sozioökonomischen Bedingungen und der Bildung der Eltern zusammenhängt.

Dementsprechend ist eines der wesentlichen Ergebnisse der bedeutenden und in der Fachwelt unumstrittenen Sinus-Studie aus dem Jahre 2008, dass es zwar Belege für Integrationsdefizite bis hin zu Integrationsverweigerungen gäbe, sie aber nicht typisch für eine Ethnie seien, sondern für Minderheiten am unteren Rand der Gesellschaft. Wenn es Befunde gibt, die Integrationsverweigerungen belegen, müssen wir über sie reden und kritisch handeln. Dies tue ich als Integrationsbeauftragter der Landesregierung. Es kann etwa darin bestehen, dass bei der Weigerung, an Integrationskursen teilzunehmen, systematisch Sanktionen ausgesprochen werden. Die Möglichkeit hierzu ist bereits heute vom Gesetzgeber festgelegt.

Wenn Herr Sarrazin über die Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme spricht, müssen wir uns auch immer wieder klar machen, dass in Baden-Württemberg lediglich 7 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund von staatlichen Transferleistungen (einschließlich ALG I, Hartz IV, BAföG) leben. Sarrazin spricht nicht über die restlichen 93 Prozent. Die Rede von den wenig aufstiegsorientierten Migranten steht zudem im Gegensatz zu weiteren Ergebnissen der repräsentativen Sinus-Studie. Sie zeigen, dass die Bereitschaft zur Leistung und der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg in der Migrantenpopulation sogar deutlich stärker ausgeprägt ist als in der deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Mehr als zwei Drittel zeigen ein modernes, individualisiertes Leistungsethos.

Thilo Sarrazin ist selbst kein Akteur der Integrationsarbeit. Seine Kritik ist somit die eines Außenstehenden. Gespräche mit Verantwortlichen vor Ort, in den Landkreisen, Kommunen und Städten Baden-Württembergs ergeben andere Einschätzungen und Analysen, die auf konkreten Erfahrungen basieren. Der von Herrn Sarrazin erhobene Vorwurf, dass die Politik nicht handeln würde und ihre Urteilskraft durch das Postulat der politischen Korrektheit "vernebelt" sei, ist falsch. Es ist mir wichtig, herauszustellen, dass neben den zahlreichen Potentialen auch Probleme der Integration thematisiert werden und entsprechend gehandelt wird. Beispielsweise habe ich gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung und der Breuninger Stiftung die landesweite Maßnahme "Integration gemeinsam schaffen - für eine erfolgreiche Bildungspartnerschaften mit Eltern mit Migrationshintergrund" initiiert. Wir setzen uns seit Jahren für die Stärkung von Frauenrechten ein, initiieren und fördern Maßnahmen und Gesetzesinitiativen gegen Zwangsheirat und Genitalverstümmelung. Im aktuellen Tätigkeitsbericht meiner Arbeit als Integrationsbeauftragter der Landesregierung und im Integrationsplan des Landes Baden-Württemberg sind die vielfältigen Maßnahmen und Ziele der baden-württembergischen Integrationsarbeit dargestellt. Der Tätigkeitsbericht trägt den Titel "Chancen ermöglichen. Zusammenhalt stärken" und macht damit einen grundlegenden Unterschied zu den Ansichten Thilo Sarrazins deutlich: Herausforderungen und Zukunftsaufgaben können nicht durch Spaltungen und Schuldzuweisungen angegangen werden, sondern nur im gesellschaftlichen Zusammenhalt, im konstruktiven Vorgehen und in einer kritisch-realistischen Sicht auf Migration und Integration.

Als Verantwortungsträger ist es mir ein wichtiges Anliegen, Entwicklung und Verbesserung voranzubringen und dafür die Realität in ihrer ganzen Bandbreite zu berücksichtigen.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Prof. Dr. Ulrich Goll MdL