Frage an Antje Tillmann bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Antje Tillmann
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Frage von Tobias S. •

Frage an Antje Tillmann von Tobias S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Tillmann,

ich nehme den Entwurf für das neue Wahlgesetz mit Verwunderung zur Kenntnis. Man mag Politikern ja häufig Inkompetenz vorwerfen, aber ich unterstelle Ihnen allen bei diesem Thema genug Kompetenz, um
1. ein Sitzzuteilungsverfahren in verschiedenen Szenarien analysieren zu können
2. die Wikipedia-Einträge zu diesem Thema zu verstehen.
Schließlich geht es Ihnen allen ja um ihre Wiederwahl und eine Regierungsbeteiligung.

Es ist also völlig verständlich, dass keine Regierung ohne Grund die Überhangmandate kippt, mit deren Hilfe sie Regierung wurde. Soweit so gut.

Nun hat das Bundesverfassungsgericht doch aber glasklar und eindeutig die verfassungswidrigen Mängel des bestehenden Wahlgesetzes dargelegt und deren Abschaffung gefordert.

Wieso enthält der Gesetzesentwurf der Koalition also immer noch Überhandmandate _und_ weitere Aspekte, die zu negativem Stimmgewicht führen? Wieso dieser ganze Zirkus? Ich verstehe ja, dass man bei Wirtschaftsfragen und Finanzfragen ewig an einem Gesetz rumändern kann, damit alle Parteien für ihre Leute etwas herausholen können. Aber wieso beim Wahlgesetz?

Bitte erklären Sie mir, warum die Koalition einen dermaßen komplizierten und offensichtlich verfassungswidrigen Entwurf einbringt?

Bitte erklären Sie mir außerdem, wieso man nicht einfach folgendes, denkbar einfaches System einführt:

Die Hälfte der Bundestagssitze wird durch Direktmandate in den einzelnen Wahlkreisen vergeben. (Erststimme)
Die andere Hälfte der Bundestagssitze wird nach dem Sainte-Laguë-Verfahren vergeben. Dabei treten Bundeslisten an. (Die 5%-Hürde kann hier optional hinzugefügt werden. Wenn die CSU bockt, kann man die Sitze auch auf die Bundesländer aufteilen, wobei die Sitzzuteilung auf die Länder vor der Wahl feststehen muss, und das Verfahren auf Landeslisten anwenden.)

Mit freundlichen Grüßen

Tobias Schoel

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Sehr geehrter Herr Schoel,

ich danke Ihnen herzlich für Ihre Anfrage zum Wahlrecht.

In der Tat: Die Materie ist sehr kompliziert. Hinter einem komplizierten Wahlrecht steckt das Bestreben, die Stimmen der Wählerinnen und Wähler möglichst getreu und gerecht in eine Sitzverteilung eines Parlamentes umzurechnen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte in seinem Urteil vom 3. Juli 2008 eine Neuregelung des Bundestagswahlrechts bis zum 30. Juni 2011 verlangt und der Politik damit eine vor allem mathematisch komplexe Aufgabe gestellt. Bislang ist es möglich, dass mehr Zweitstimmen für eine Partei am Ende weniger Sitze im Bundestag für diese Partei bedeuten können – oder umgekehrt. Diese widersinnige Funktionsweise war zu beseitigen (und nicht explizit die Überhangmandate), was in einem föderal orientierten Zweistimmenwahlrecht eine überaus komplexe Aufgabe war.

Diese zu lösen ist der christlich-liberalen Koalition, wenn auch spät, gelungen, indem wir das Verteilverfahren umkehren: Bislang wurden die Zweitstimmen zunächst auf die bundesweit verbundenen Listen der Parteien und dann auf die Landeslisten der jeweiligen Partei verteilt. Künftig erfolgt zunächst die Verteilung auf die Länder und dann innerhalb der Länder auf die Parteien.

Dazu wird in einem ersten Schritt festgestellt, wie viele Sitze auf das jeweilige Land entfallen, was sich aus der Anzahl der Wähler in den einzelnen Ländern ergibt. In einem zweiten Schritt werden die auf ein Land entfallenen Sitze auf die dort zu berücksichtigenden Landeslisten verteilt, also jene Listen, die bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen haben. Durch die Aufhebung der bundesweiten Listenverbindungen wird der Effekt des „negativen Stimmgewichts” verfassungskonform beseitigt. Isoliert angewendet, würde dieses Verfahren jedoch ein neues Problem aufwerfen: Reststimmen, die in den jeweiligen Ländern für kein weiteres Mandat mehr reichen, würden verfallen, was insbesondere für kleine Parteien in kleinen Ländern schmerzlich wäre. Entscheidendes Problem aber wäre, dass sich Reststimmen-Vor oder Nachteile bei der Verteilung in den 16 Ländern zufällig aufsummieren könnten. Derartige Erfolgswertunterschiede werden künftig durch eine neue Reststimmenkorrektur ausgeglichen.

Die von Ihnen angesprochenen Überhangmandate sind nicht die Ursache für das „negative Stimmgewicht”, sondern im Zusammenspiel mit ihnen die miteinander verbundenen Landeslisten. Daher würden Ausgleichsmandate das „negative Stimmgewicht” nicht beseitigen und somit auch den BVerfG-Auftrag nicht erfüllen. Wer wie die SPD gleichwohl die Überhangmandate abschaffen will, setzt sich dem Vorwurf aus, nicht das „negative Stimmgewicht” beseitigen, sondern eher ein missliebiges Wahlergebnis verhindern oder den Bundestag aufblähen zu wollen. Schlichtweg verfassungswidrig ist der Gesetzesvorschlag der Grünen, einmal errungene Direktmandate wieder abzuerkennen.

Wir dagegen wollen daran festhalten, dass die Wähler in jedem Wahlkreis mit der Erststimme einen vielleicht sogar parteifernen oder regionalen Kandidaten direkt wählen können, ohne dass dieser Kandidat wegen des Erfolgs seiner Partei bei den Zweitstimmen sein Mandat wieder aberkannt bekommen kann.

Mit dem Gesetzentwurf erfüllt die christlich-liberale Koalition den Auftrag des BVerfG, ohne dass neue Probleme geschaffen oder gar Ziele verfolgt werden, die mit dem Auftrag des BVerfG nichts zu tun haben.

Mit freundlichen Grüßen
Antje Tillmann, MdB

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