Frage an Cem Özdemir bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Cem Özdemir
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Jürgen M. •

Frage an Cem Özdemir von Jürgen M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Özdemir,

im Vorfeld der Bundestagswahl bitte ich um Ihre Stellungnahme zu folgenden Fragen:

1. Frage:

Sind Sie im Falle Ihrer Wahl bereit, religiöse Diskriminierungen in der Arbeitswelt zu beenden, das Antidiskriminierungsgesetz (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) so zu ändern, dass solche Ungerechtigkeiten abgebaut werden und der gleiche Diskriminierungsschutz auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen Dienst eröffnet wird?

2. Frage:

Sind Sie im Falle Ihrer Wahl bereit, die im Grundgesetz verankerten Arbeitnehmerrechte auch in Einrichtungen der Diakonie und der Caritas wirksam werden zulassen und das Betriebsverfassungsgesetz entsprechend zu ändern?

3. Frage:

Werden Sie sich im Fall Ihrer Wahl dafür einsetzen, dass die im Grundgesetz verankerten Menschenrechte Vorrang vor religiösen Geboten haben (z.B. Beschneidung von Knaben)?

Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Michl

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Michl,

Bündnis 90/Die Grünen setzen sich für eine offenen Gesellschaft ein, in der niemand wegen des Geschlechts, aus ethnischen oder rassistischen Gründen, aufgrund der Religion oder Weltanschauung, der sexuellen Identität, des Alters oder wegen einer Behinderung benachteiligt wird. Diese Gesellschaft ermöglicht und sichert gleichzeitig allen Mitgliedern die individuelle Wahrnehmung der Freiheits- und Bürgerrechte. Wir wollen in Deutschland und Europa Diskriminierungen bekämpfen und die von der schwarz-gelben Bundesregierung blockierte fünfte Antidiskriminierungsrichtlinie der EU voranbringen. Eine strukturelle und finanzielle Stärkung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und stärkere Rechte für Einrichtungen wie Behindertenbeauftragte sollen im nationalen Bereich helfen, Diskriminierungen anzugehen. Das "Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz" wollen wir effektiver gestalten, den Rechtsschutz für Betroffene stärken und insbesondere gegen strukturelle Diskriminierungen ein Verbandsklagerecht vorsehen.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kirchlichen Einrichtungen unterliegen den Besonderheiten des kirchlichen Arbeitsrechts. Damit stehen ihnen wesentliche ArbeitnehmerInnenrechte nicht zu. Diese Praxis stößt auch innerhalb der Kirchen immer mehr auf Kritik. Denn Loyalitätsanforderungen der ArbeitgeberInnen auch außerhalb von Verkündigungsbereichen, die sich auf die private Lebensführung seiner MitarbeiterInnen beziehen, passen nicht in eine demokratische Gesellschaft. Wir werden mit den Kirchen, den Gewerkschaften und anderen gesellschaftlich Beteiligten in einen Dialog treten, damit sich die Situation der Beschäftigten verbessert. Wir wollen, dass die kirchlichen MitarbeiterInnen außerhalb der Verkündigungsbereiche die gleichen Rechte bekommen wie andere ArbeitnehmerInnen auch. Daher wollen wir für sämtliche Beschäftigungsverhältnisse jenseits des Bereichs der Verkündigung das kirchliche Arbeitsrecht abschaffen. Dazu gehört das Recht zur Bildung von Betriebsräten und das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit einschließlich der Streikfreiheit. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) werden wir mit dem Ziel ändern, dass seine Bestimmungen wie in anderen Tendenzbetrieben auch auf Beschäftigungsverhältnisse in kirchlichen Einrichtungen Anwendung findet.

Für uns ist selbstverständlich: Zu Deutschland gehören das Judentum und der Islam ebenso wie das Christentum und Konfessionsfreie. Wir wissen, dass die Beschneidung von Jungen für Juden und Muslime eine zentrale religiöse Bedeutung hat. Deswegen muss eine Lösung gefunden werden, die alle Grundrechte optimal verwirklicht. Vor der Sondersitzung des Bundestages innerhalb der Sommerpause 2012 war keine gründliche Erörterung in der gesamten Fraktion möglich, wie diese Grundrechtskollision von körperlicher Unversehrtheit des Kindes, Religionsfreiheit von Kind und Eltern sowie das elterliche Sorgerecht im Rahmen der Rechtsordnung am besten gelöst werden kann. Daher hat die Fraktion sich nicht an dem Hauruckverfahren beteiligt, in dem die Koalition in nur wenigen Tagen im Juli einen Antrag entworfen hat.

Die Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben daher individuell abgestimmt, manche für den Antrag, manche dagegen, manche haben sich enthalten. Wie wichtig der Bundestagsfraktion dieses Thema ist, zeigen die persönlichen Erklärungen, die einzelne oder mehrere Abgeordnete abgegeben haben. Allen gemein ist, dass sichergestellt werden muss, dass Beschneidungen medizinisch fachgerecht durchgeführt werden und dass sie für die Jungen möglichst schmerzfrei sein müssen.

Ich habe mich am 03. Juli 2012 persönlich ausführlich zum Thema Beschneidung dazu geäußert, mein Statement finden Sie hier:

https://www.facebook.com/Cem/posts/10150955511527881

Grundrechte müssen immer wieder gegeneinander abgewogen werden und auch Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht. Kürzlich hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig in einem Konflikt zwischen der Glaubensfreiheit und dem staatlichen Bildungsauftrag ein Urteil zugunsten des Bildungsauftrags entschieden. Das habe ich ausdrücklich begrüßt. Die Richter haben ein kluges Urteil gesprochen. Bildung und Schulpflicht wiegen hier aus meiner Sicht eindeutig schwerer als die Religionsfreiheit. Sport ist außerdem wichtig für die Entwicklung der Kinder, sie sollen das auch im Schulunterricht erfahren können.

Mit freundlichen Grüßen

Cem Özdemir

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