Frage an Cem Özdemir bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Cem Özdemir
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Martin F. •

Frage an Cem Özdemir von Martin F. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Guten Tag Herr Özdemir,

an Griechenland können wir sehen, wohin eine rücksichtslose EU-Expansion führt. Wieso nimmt die EU ständig neue korrupte- und zurückgebliebene Länder auf. Welchen Nutzen haben wir davon, dass habe ich immer noch nicht verstanden?

MfG

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Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Damen und Herren,

Europa steht derzeit vor gewaltigen Herausforderungen – ohne Frage. Die von Ihnen genannte Finanzkrise in Griechenland ist sicherlich eine davon. Dazu kommt aktuell noch die Aufnahme der vielen Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern und Regionen, in denen Krieg und Repressionen Menschen dazu zwingen, ihr Land zu verlassen. Zudem erschwert das Wiedererstarken von Nationalismus und Rechtspopulismus in Europa zurzeit die gemeinsame Entscheidungsfindung. Auch außenpolitisch stehen wir vor großen Herausforderungen: In unserer östlichen Nachbarschaft sind wir mit einem Gewaltkonflikt in der Ukraine sowie einem zunehmend autoritärer auftretenden Russland konfrontiert, das völkerrechtswidrig die Krim annektiert hat. In unserer südlichen Nachbarschaft hat das Erstarken der islamistischen Terrormiliz Islamischer Staat bzw. Daesch den Krieg in Syrien weiter eskalieren lassen und im Irak unter anderem zu unfassbarer Gewalt gegenüber der Minderheit der Jesiden geführt.

Genau wegen diesen Herausforderungen ist es umso wichtiger, dass Europa jetzt zusammensteht. Denn gemeinsam sind wir stärker als allein. Dies ist das Erfolgsrezept der Europäischen Union. Vergessen wir nicht: Trotz aller Rückschläge und inneren Krisen ist Europa nach wie vor ein einzigartiges Erfolgsprojekt. Das Zusammenwachsen Europas in der Europäischen Union hat dazu geführt, dass aus Feinden Freunde wurden. Dass Deutschland nun eng mit seinen Nachbarn Frankreich und Polen verbunden ist, gegen die es früher in den Krieg gezogen war. Siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist es immer wieder wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass Frieden in Europa eine Errungenschaft ist, die lange Zeit alles andere als selbstverständlich war. Heute ist es normal für uns, Grenzen zu überschreiten, ohne darüber nachzudenken, mit einer gemeinsamen Währung zu bezahlen oder auch im europäischen Ausland zu leben und zu arbeiten.

Die Europäische Union hat uns und unsere europäischen Nachbarn zusammengebracht und sorgt dafür, dass wir nun gemeinsam statt gegeneinander politische Entscheidungen treffen. Für diesen Erfolg war entscheidend, dass die Europäische Union offen gewesen ist gegenüber neuen Mitgliedern. Damit haben wir dazu beigetragen, dass in ehemaligen Diktaturen wie Portugal, Spanien und, ja, auch Griechenland die Demokratie feste Wurzeln schlagen konnte und dass die osteuropäischen Staaten, die früher auf der anderen Seite der Kalten-Kriegs-Front standen, nun unsere Partner sind.

Die europäische Erweiterungspolitik ist eine Erfolgsgeschichte. Das heißt nicht, dass dabei nicht auch Fehler passiert sind, aus denen wir lernen sollten. So kritisieren beispielsweise unser europapolitischer Sprecher der Fraktion, Manuel Sarrazin, und Marieluise Beck, unsere Sprecherin für Osteuropapolitik, zurecht: „Die Europäische Union hat in der Nachbarschaftspolitik bislang zu sehr auf Eliten gesetzt, statt die Reformbemühungen der Zivilgesellschaften in diesen Ländern stärker zu unterstützen und sie in den Transformationsprozess ausreichend einzubeziehen.“ ( http://www.manuelsarrazin.de/pressemitteilungen/21-05-2015/pressemitteilung-beitrittsperspektive-f%C3%BCr-die-l%C3%A4nder-der-%C3%B6stlichen-p-0 ) Ebenso ist es mit Blick auf die aktuellen Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien, Serbien und der Türkei richtig, dass die EU aus den Fehlern des verfrühten Beitritts Rumäniens und Bulgariens gelernt hat.

Auch bei der Griechenlandkrise hat Europa aus unserer Sicht Fehler gemacht. Die Krisenpolitik mit ihrem einseitigen Fokus auf staatliche Sparmaßnahmen und Lohnsenkungen hat die Wirtschaftskrise in den überschuldeten Ländern Europas verschärft. Zu wenig wurde getan, um Spar- und Reformbelastungen fair zu verteilen und die Wirtschaft wiederzubeleben. Wir setzen uns deshalb für eine Politik ein, die uns solide, solidarisch und nachhaltig aus der Krise führt. Nur in einem erfolgreichen Europa kann Deutschland selbst erfolgreich sein: Europa ist unsere gemeinsame Zukunft.

Mit freundlichen Grüßen
Cem Özdemir

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