Frage an Hagen Reinhold bezüglich Bundestag

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Hagen Reinhold
FDP
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Frage von Jochen W. •

Frage an Hagen Reinhold von Jochen W. bezüglich Bundestag

Herr Reinhold,

wie stehen Sie zur geplanten Änderung des Infektionsschutzgesetzes? Werden Sie morgen im Bundestag dafür oder dagegen stimmen?

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Antwort von
FDP

Sehr geehrter Herr Wilhelm,

die Covid-19-Pandemie stellt uns alle weiter vor große Herausforderungen und erfordert immer noch einschneidende Maßnahmen in unserem Alltag. Wir Freie Demokraten sind jedoch wie Sie in großer Sorge über die enormen sozialen und wirtschaftlichen Risiken, die vom fortgesetzten Stillstand und den eingeschränkten Grundrechten in unserem Land ausgehen. Diese Risiken werden von der Bundesregierung derzeit nicht ausreichend gewürdigt.

Prinzipiell begrüßt meine Fraktion, dass die Bundesregierung endlich ein Konzept vorgelegt hat, welches einheitlich für das ganze Land klar die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen einzelner Maßnahmen beschreibt. So hatten wir Liberale es bereits im vergangen Jahr bei der Reform des Infektionsschutzgesetzes gefordert.

Genauso wichtig ist, dass die Bundeskanzlerin wieder den Weg über ein ordentliches parlamentarisches Verfahren gegangen ist und nicht mehr hinter verschlossenen Türen mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten über das Schicksal der Bürgerinnen und Bürger verhandelt. Wichtige Entscheidungen, insbesondere über Grundrechtseinschränkungen, müssen im Parlament getroffen werden.

Das ändert jedoch nichts daran, dass wir Freie Demokraten diesen Gesetzesentwurf abgelehnt haben. Die enthaltenen Maßnahmen, Freiheitsbeschneidungen, Automatismen und Ermächtigungen für die Bundesregierung sind wenig wirksam und dafür umso unverhältnismäßiger:

1. Der von der Großen Koalition beschlossene Entwurf ließ wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen aus über einem Jahr der Pandemiebekämpfung unberücksichtigt. Beispielsweise gehen vom Einzelhandel, von Hotellerie und Gastronomie bei bestehenden Schutzmaßnahmen kaum Infektionsrisiken aus. Das Gleiche gilt, wenn Sport, Freizeitunternehmungen und gesellschaftliches Leben unter freiem Himmel stattfinden. Dies wird von den führenden deutschen Aerosol-Forschern bestätigt. Trotzdem setzt die Bundesregierung weiterhin einseitig auf Repression und lässt stattdessen präventive Maßnahmen außer Acht. Die Bundesregierung kann keine schlüssige Teststrategie vorweisen. Zwingende Tests im Bildungswesen und in den Betrieben führen derzeit nicht zu wirklichen Öffnungsperspektiven. Dabei sind testbasierte Öffnungskonzepte eine gute Möglichkeit, soziale und wirtschaftliche Schäden zu reduzieren. Auch Raum für innovative Hygienekonzepte oder Modellprojekte, wie sie gerade in den Ländern angelaufen sind oder im Ausland bereits erfolgreich durchgeführt wurden, gibt es nach dem Regierungsentwurf nicht. Damit wird die Möglichkeit eingeschränkt, die Wirksamkeit von alternativen Schutzvorhaben praktisch zu erproben und eine schnelle Rückkehr zu mehr Normalität zu ermöglichen.
2. Die 7-Tage-Inzidenz ist als alleiniger Maßstab für Schutzmaßnahmen ungeeignet, noch dazu weil die allgemeine 100er-Inzidenz und die schulspezifische 165er-Inzidenz politisch festgelegte und keine wissenschaftlich begründeten Schwellenwerte sind. Dies hat uns das Bundesgesundheitsministerium in einem Schreiben bestätigt und verweist ebenfalls auf die Notwendigkeit differenzierter Kriterien wie "den prozentualen Anteil positiver Testergebnisse unter allen durchgeführten PCR-Tests, die Anzahl an COVID-19-Patientinnen und COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen oder die Zahl der an oder mit COVID-19 Verstorbenen" als Maßstab der Schwere der Pandemie. Auch die Bundeskanzlerin selbst hat bei ihrer Einbringungsrede zu diesem Gesetzesentwurf nicht nur die Inzidenzwerte, sondern auch weitere Kriterien wie den R-Wert und die belegten Intensivplätze als wichtige Indikatoren angeführt. Der Bundesregierung ist also bekannt, dass die Festlegung einer Inzidenz von 100 (beziehungsweise 165 im Falle der Schulen) mit automatischen Konsequenzen nicht sachgerecht ist. Es macht eine Differenzierung beispielsweise zwischen einem lokalen starken, aber kontrollierbaren Ausbruch und einem diffusen Ausbruchsgeschehen unmöglich. Die Beurteilung der epidemischen Lage sollte daher nicht nur auf Grundlage der 7-Tage-Inzidenz erfolgen, sondern zusätzlich weitere Kriterien einbeziehen. Meine Fraktion hat dazu bereits im Februar (Bundestagsdrucksache 19/26536) zusätzliche Indikatoren vorgeschlagen, unter anderem die Einbeziehung der Testkapazitäten und den Anteil der Positivbefunde, die Belastung des Gesundheitswesens und den Impffortschritt. Mit diesem Bündel an Kriterien und bei deutlich mehr Tests symptomfreier Personen könnte das regionale Infektionsgeschehen erheblich besser beurteilt und bekämpft werden.
3. Die im von der Großen Koalition beschlossenen Entwurf enthaltene Verordnungsermächtigung an die Bundesregierung ist zu weitgehend und nicht hinreichend bestimmt. Die Regierung kann nun bei einer 7-Tage-Inzidenz per Verordnung und ohne weitere Befassung des Parlaments von den Regelungen in jede Richtung abweichen können. Weitere bundeseinheitliche Grundrechtseinschränkungen dürfen aus Sicht der Freien Demokraten aber nicht ohne eine Zustimmung des Deutschen Bundestages erfolgen. Wichtige Einzelfragen wie der Umgang mit Geimpften sollten zudem gesetzlich geregelt werden.
4. Die Einführung einer nächtlichen Ausgangssperre bei einer 7-Tage-Inzidenz von 100 ist ein unverhältnismäßiger und wissenschaftlich unbegründeter Eingriff in die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger. Untersuchungen wie die Oxford-Studie von Jan Brauner et al. (https://science.sciencemag.org/content/371/6531/eabd9338.full) oder die Berliner MODUS-COVID-Mobilitätsstudie von Kai Nagel et al. (http://docs.dpaq.de/17481-nagel2021-03-19_modus-covid_bericht.pdf) zeigen, wie gering der Beitrag nächtlicher Ausgangssperren in einem Gesamtpaket von Maßnahmen ist. Auch mehrere Gerichte haben Ausgangssperren bereits aufgehoben, zuletzt das Oberverwaltungsgericht Lüneburg. Am meisten sticht jedoch die Realitätsferne heraus: Viele Teile Deutschlands sind wie Mecklenburg-Vorpommern größtenteils dünn besiedelt – wenn ich bei mir zuhause nachts vor die Tür trete, bin ich in der Regel fast der Einzige auf der Straße.
Wir Freie Demokraten haben den Gesetzesentwurf daher abgelehnt. Wir haben im parlamentarischen Verfahren mit verschiedene Änderungsanträge versucht, etwa die Ausgangssperren und die einseitige Fixierung auf die Inzidenzwerte aus dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung zu streichen. CDU/CSU und SPD haben unsere Vorschläge jedoch abgelehnt.

Mit den besten Grüßen.
Ihr Hagen Reinhold