Frage an Heide Rühle bezüglich Finanzen

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Heide Rühle
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Frage von Benedikt M. •

Frage an Heide Rühle von Benedikt M. bezüglich Finanzen

Sehr geehrter Frau Rühle,

ich würde gerne Ihren Standpunkt sowie Ihr Abstimmungsverhalten zum ESM-Vertrag kennen lernen.

Insbesondere die Erläuterung Ihres Standpunktes zu sowie eine kritische Diskussion der nachfolgenden ESM-Artikel im Zusammenhang mit dem essentiellen Budgetrecht des Bundestages wünsche ich mir:
Artikel 8: ... 700 Miliarden Euro ... die Brandmauer reicht nicht aus für alle Staaten und noch mehr Geld löst das Problem nicht, sondern schafft mehr Risiken. Eine Fiskalunion ist vertraglich ausgeschlossen.
Artikel 9: ... unwiderruflicher Kapitalabruf binnen 7 Tagen ...kein Einspruch seitens des Parlaments möglich ... sofort haushaltswirksam ... setzt europaweit die Abwärtsspirale in Gang
Artikel 10: ... Änderung des Grundkapitals ... jederzeit kann eine beliebige Erhöhung stattfinden, ohne Widerspruchsrecht ... keine Revidierung der Entscheidung möglich, auch nicht durch neu gewählte Volksvertreter
Artikel 27: ... volle Rechts- und Geschäftsfähigkeit des ESM und umfassende gerichtliche Immunität ... d.h. ESM kann klagen, aber nicht verklagt werden und dies auch nicht von den gewählten Parlamenten
Artikel 30: ... Immunität von Personen ... keinerlei Rechenschaftspflicht, noch nicht einmal Offenlegungspflicht

Es ist kaum vorstellbar, dass Sie als Privatperson einen Vertrag unterzeichnen würden, der Ihnen wie oben ausgeführt unwiderruflich jegliches Recht aus der Hand nimmt und über Ihr Leben sowie das Ihrer Nachfahren so tiefgreifend bestimmen kann.

Sie sind als Abgeordneter in erster Linie Ihrem Gewissen verpflichtet. Würden Sie diesen ESM-Vertrag stellvertretend für die Bundesbürger ihres Wahlkreises unterzeichnen?

Bitte nehmen Sie öffentlich dazu Stellung.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Benedikt Mandel

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Dr. Mandel,

vielen Dank für Ihre Frage. Ihre stichwortartigen Ausführungen haben die Beantwortung nicht gerade erleichtert, ich hoffe jedoch, dass ich die von Ihnen aufgeworfenen Fragen zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet habe.

Lassen Sie mich doch vorweg anmerken: der gemeinsame Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist streng genommen kein Instrument der "Europäischen Union". Als Mitglieder des Europäischen Parlaments sind und waren wir weder in die Verhandlungen und die Vertragsgestaltung eingebunden, noch haben wir je über den ESM abgestimmt. So sehr ich der Meinung bin, dass wir in Europa einen tragfähigen Stabilisierungsmechanismus benötigen, so sehr kritisiere ich, dass beim ESM weder in der Phase der Vertragsgestaltung noch im operativen Geschäft Mitsprache- und Kontrollrechte des Europäischen Parlaments angedacht sind bzw. waren. Der ESM ist letztlich ein zwischenstaatliches Instrument der Krisenbewältigung, auf das sich die Staaten der Eurozone geeinigt haben. Dieses Defizit an gesamt-europäischen, demokratischen Kontroll- und Mitwirkungsrechten halte ich für falsch. Das bedeutet jedoch nicht, dass der ESM keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegt.

Doch nun zu Ihren Punkten im Einzelnen: Die Summe von 700 Milliarden Euro war das Verhandlungsergebnis des Finanzministerrates. Die Höhe der Summe entsprang nicht zwingenden ökonomischen Erwägungen und Berechnungen sondern fußt auf einem Kompromiss. Was die Finanzminister der ESM-Vertragsstaaten dazu bewegte, diese Summe festzulegen, sollten Sie im Zweifelsfall die Deutsche Bundesregierung erfragen. Das Europäische Parlament war hier nicht beteiligt.

Sie schreiben weiter, eine "Fiskalunion" sei "vertraglich ausgeschlossen". Der ESM beinhaltet jedoch keine Fiskalunion, also eine Zusammenarbeit in steuerlichen Fragen. Zudem ist eine Fiskalunion im Sinne einer Zusammenarbeit in steuerlichen Fragen keinesfalls durch die Europäischen Verträge ausgeschlossen. Die Zusammenarbeit in Steuerfragen ist gängige Praxis in der Europäischen Union, beispielsweise bei der Mehrwertsteuer oder bei der einheitlichen Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer. Wir GRÜNEN stehen einer Harmonisierung bestimmter Steuern durchaus positiv gegenüber wenn es darum geht, einen ruinösen Steuerwettbewerb zu verhindern. Der Vertrag von Lissabon bietet unter anderem mit den Artikeln 113-115 AEUV eine vertragliche Grundlage für die Zusammenarbeit in diesem Bereich. Der derzeit geplante Fiskalpakt, oder genauer der "Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (SKS-Vertrag)" wird zwar "Europäischer Fiskalpakt" genannt, stellt jedoch widersinnigerweise keine weitere Zusammenarbeit in Steuerfragen dar, sondern verpflichtet die Unterzeichnerstaaten "lediglich" zu einem ausgeglichenen Haushalt und unterfüttert dies mit zweifelhaften Kontrollmethoden. Auch hier war das Europäische Parlament nicht eingebunden, obwohl es durchaus auf Basis des Vertrags von Lissabon hätte mitentscheiden können. Renommierte Europarechtler, wie Prof. Ingolf Pernice, halten den intergouvernmentalen Fiskalpakt sogar für europarechtswidrig.

Ihre Ausführungen zu Artikel 9 verstehe ich so, dass Sie befürchten, dass ohne Parlamentsbeschluss Mittel abgerufen werden können. Zwar hat das Europäische Parlament nicht über den ESM abgestimmt, wenn im ESM-Vertrag jedoch von "genehmigten Mitteln" spricht, dann sind dies Mittel, die die jeweiligen demokratisch gewählten, nationalen Regierungen aus freien Stücken zur Verfügung stellen. Der Bundestag wird über den deutschen Anteil der Einlagen noch vor der Sommerpause abstimmen. Insofern erfolgt die Abrufung der Mittel was Deutschland angeht durchaus per Parlamentsbeschluss. Das der ESM völlig ohne Kontrolle wäre - wie die von Ihnen weiter angeführten Stichworte nahelegen - ist ebenfalls nicht ganz richtig. Die GRÜNEN im Deutschen Bundestag haben die Regierung dazu gedrängt, auch beim ESM ein umfassendes Beteiligungsgesetz einzubringen. Demnach wird es wahrscheinlich so sein, dass die Entscheidungen, die die Bundesregierung im ESM fällt, sehr wohl einer gewissen parlamentarischen Mitwirkung und Kontrolle durch den Deutschen Bundestag unterliegen. Beim ESFS ist dies gängige Praxis und der Deutsche Bundestag hat hier bereits entsprechende Erfahrungen gemacht. Wenn Sie dazu weitere Details in Erfahrung bringen wollen, können Sie sich an Ihren Bundestagsabgeordneten wenden.

Auch die Änderung des Grundkapitals durch den Gouverneursrat des ESM Bedarf der Einstimmigkeit. Dies ist klar in Artikel 6 Abs. 5 (d) festgelegt. Ich gehe nicht davon aus, dass der Vertreter der Bundesregierung im Gouverneursrat anders abstimmen wird als von der Bundesregierung verlangt und im entsprechenden Bundestagsausschuss beschlossen. Insofern ist es Unsinn davon zu sprechen, dass eine Kapitalerhöhung beliebig und ohne Widerspruch stattfinden kann.

Die von Ihnen angeführte Immunität betrifft vor allem die Vermögenswerte des ESM. Doch auch diese Immunität ist nicht unantastbar, sie kann mit qualifizierter Mehrheit von den Mitgliedsstaaten im Gouverneursrat aufgehoben werden. Das Schreckgespenst einer alles kontrollierenden, aber unantastbaren Behörde halte ich deswegen für ein falsches Zerrbild.

Wie sie darauf kommen, dass Artikel 30 bedeuten würde, der ESM habe keine Rechenschafts- oder Offenlegungspflicht, ist mir schleierhaft. Der bestellte Prüfungsausschuss aus externen Vertretern ist nicht weisungsgebunden (ausdrücklich auch nicht der ESM-Leitung gegenüber). Auch die nationalen, obersten Rechnungsprüfungsbehörden (im Falle Deutschlands ist dies der Bundesrechnungshof) als auch der Europäische Rechnungshof entsenden Vertreter in den Prüfungsausschuss.

Ich hoffe, Sie verstehen nach meinen Ausführungen, dass der ESM mit nichten ein Vertrag ist der - wie Sie schreiben - uns "unwiderrruflich jegliches Recht" aus der Hand nimmt. Trotz allem bemängele ich die fehlende demokratische Kontrolle und Mitwirkungsmöglichkeit durch das Europäische Parlament als die legitime Vertretung aller Europäer.

Bei allen Schwächen, die der ESM haben mag, bietet er erstmals die Grundlage für eine geordnete Insolvenz eines Staates. Denn Kredite vergibt der ESM nur, wenn der Not leidende Euro-Staat seine Schulden auch tatsächlich tragen kann. Ist ein Land dazu nicht in der Lage, muss es seinen Schuldenstand zuerst auf ein tragfähiges Niveau reduzieren - und zwar durch einen teilweisen Verzicht der privaten Gläubiger. Wie die EFSF soll der ESM aber nicht nur Kredite an Euro-Staaten ausgeben dürfen, sondern auch Staatsanleihen am Sekundär- und Primärmarkt aufkaufen sowie Kredite zur Rekapitalisierung von Banken und vorsorgliche Kreditlinien zur Verfügung stellen. Der ESM schafft also verbindliche Regeln, die chaotische Einzelrettungen zum Höchstpreis verhindern.

Ich hoffe, ich konnte Ihre Frage ausschöpfend beantworten und verbleibe

mit freundlichen Grüßen

Heide Rühle