Wieso bejahen Sie eine nicht angemessene Impfpflicht (keine langfristige Testzeit (1), Ex-JustizMinist Lamprecht: rechtlich nicht mgl) und es nicht um Solidarität geht (auch Geimpfte sind Spreader)?

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Helge Lindh
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Frage von Ralph W. •

Wieso bejahen Sie eine nicht angemessene Impfpflicht (keine langfristige Testzeit (1), Ex-JustizMinist Lamprecht: rechtlich nicht mgl) und es nicht um Solidarität geht (auch Geimpfte sind Spreader)?

Wenn ich hier erklären darf, damit wir nicht aneinander vorbeisprechen ( an die Red: ich kann leider etwas Meinungsäußerung nicht ganz vermeiden; ich weiß aber nicht, wie ich sonst sehr genau fragen kann) :

zu (1) Experten, die behaupten, es gäbe keine langfristigen Folgen bei den neuen Impfstoffsorten mRNA- und Vektorimpfstoffe, wissen anscheinend wenig von Risikokalkulation: bei komplexen Systemen kann man gar nicht alle unvorhergesehenen Ereignisse abschätzen. Nach Popper gibt es nur einen Weg: -langfristige- Validierung unter standardisierten Testbedingungen - was bei Corona langfristig nie stattgefunden hat. Auch bei altbewährten Impfstoffsorten (Novavax) sind Zweifel angebracht: Weltrekord für die bisher schnellste Entwicklung eines altbekannten Impfstoffes war 4 Jahre.

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Sehr geehrter Herr W.,

vielen Dank für ihre Frage. Ihre Sorgen und Bedenken verstehe ich. Sie können davon ausgehen, dass die Entscheidung über eine allgemeine Impfpflicht aus der letzten Woche keine einfache war. Der Deutsche Bundestag hat mehrheitlich klar gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gestimmt. Das Abstimmungsergebnis ist das Resultat einer breit und offen geführten Debatte, die weit über Parteigrenzen hinweg kontrovers und offen geführt wurde. Bis zuletzt haben wir um Kompromisse gerungen. Es zeigt, dass wir uns als Abgeordnete diese Entscheidung nicht leicht gemacht haben. Das Abstimmungsergebnis ist selbstverständlich zu akzeptieren.

Ich war und bin jedoch der Überzeugung, dass Sie notwendig, geboten und das richtige Mittel gewesen wäre, um viele weitere Todesopfer zu verhindern und Einschränkungen des öffentlichen Lebens vorzubeugen. Wie Sie aber wissen, ist die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht derzeit nicht mehrheitsfähig im Deutschen Bundestag. Die emotionale und offene Debatte der letzten Wochen zeigt trotz aller Differenzen, dass die parlamentarische Demokratie in unserem Land intakt ist.

Hinter uns allen liegen schwere Monate – Monate, die verbunden waren mit besonderen Einschränkungen des alltäglichen Lebens, Monate in denen tausende Deutsche Familienangehörige verloren haben, Monate in denen die Ärztinnen und Ärzte auf den Intensivstationen an das äußerste Limit ihrer Belastungsgrenze gekommen sind und weiterhin kommen. Wir wollen daher jetzt - an diesem entscheidenden Punkt in der Pandemie - sicherstellen, dass Menschen, die aufgrund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustandes ein besonders hohes Infektionsrisiko und ein besonders hohes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben besser geschützt werden. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen oder auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe kommt hier eine besondere Verantwortung zu. Die Menschen, die ihnen zur Behandlung, Versorgung, Pflege oder Betreuung anvertraut sind, können sich zum Teil aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen. Daher ist die einrichtungsbezogene Impfpflicht in medizinischen Einrichtungen und der Pflege ein wichtiger Bestandteil des Schutzkonzeptes um diese, besonders vulnerablen, Menschen zu schützen. Ungeimpftes Personal stellt aufgrund der besonderen Nähe zu den anvertrauten Menschen in Einrichtungen ein zusätzliches Risiko dar. Deshalb haben wir alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einrichtungsbezogen, beispielsweise in Krankenhäusern, Tageskliniken, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, Entbindungseinrichtungen und voll- oder teilstationären Pflegeeinrichtungen zum Nachweis einer COVID-19-Impfung verpflichtet, sofern keine medizinische Kontraindikation gegen die Impfung vorliegt. Das ist auch mit unserem Grundgesetz im Einklang. Die Pflicht, einen ausreichenden Impfschutz gegen SARS-CoV-2 aufweisen zu müssen, berührt zwar das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit, auch wenn die Freiwilligkeit der Impfentscheidung selbst unberührt bleibt. Der Eingriff ist aber in der verfassungsrechtlichen Abwägung angemessen, da die überragend wichtigen öffentlichen Ziele des Gesundheitsschutzes verfolgt werden.

Auch zu einer möglichen allgemeinen Impfpflicht haben wir im Bundestag lange diskutiert und mit Experten und Expertinnen beratschlagt um einen angemessenen und guten Weg zu finden. Wir haben versucht einen mehrheitsfähigen Kompromiss zwischen den zwei vorgebrachten Anträgen zu finden, in dem auch die Vorschläge des Unionsantrages, wie das Impfregister, enthalten waren. Generell bleibt auch festzuhalten, dass trotz des nun erzielten Ergebnisses, wohl eine Mehrheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier eine Impfpflicht für sachgerecht hält, so wie es sich auch in der Gesellschaft abbildet. Da die Abstimmung im Bundestag zur Impfpflicht ab 60 vom 07.04.2022 aber, wie bereits einführend erwähnt, zu dem Ergebnis geführt hat, dass es keine allgemeine Impfpflicht geben wird, bleibt es dabei, dass jeder Mensch eigenverantwortlich entscheiden muss, ob er oder sie sich impfen lassen möchte. Ich persönlich bedauere, dass eine allgemeine Impfpflicht keine Mehrheit im Bundestag gefunden hat. Eine Entscheidung für eine Impfpflicht hätte uns vor erheblichen Problemen, sowohl im Gesundheitswesen als auch im Alltag, geschützt. Sie hätte verhindert, dass unser Gesundheitssystem und damit auch das Personal, welches nun seit knapp zwei Jahren am absoluten Maximum arbeitet, erneut an die Belastungsgrenzen und darüber hinaus gehen muss.

Doch nicht nur unser Gesundheitswesen könnte die Folgen dieser Entscheidung zu spüren bekommen, auch wir als Gesellschaft müssen womöglich einmal mehr mit Einschränkungen in unserem Alltag leben. Eine Impfpflicht hätte diese Prognosen abschwächen können und uns einen sorgefreieren Herbst und Winter ermöglicht. Dass diese Chance überdies durch parteipolitische Spiele einfach so in den Sand gesetzt wurde ärgert mich, denn die Union hat durch ihr Handeln eine Gewissensfrage verantwortungslos beantwortet. Sie muss sich im Herbst daran messen lassen, wenn die Krankenhäuser wieder erheblich belastet sind, Gastronomie und Geschäfte wieder Einschränkungen unterliegen und auch der Schulalltag wieder herausfordernd wird. Nun müssen wir jedoch mit den Konsequenzen dieser Entscheidung leben und andere Wege finden, wie wir mit der Pandemie und ihrem Verlauf umgehen können, um die Bevölkerung zu schützen.

Im Übrigen wird in Deutschland ein Impfstoff nur dann zugelassen, wenn er alle drei Phasen des klinischen Studienprogramms erfolgreich bestanden hat. Diese nationalen und internationalen Qualitätsstandards gelten wie bei allen anderen Impfstoff-Entwicklungen auch bei der Zulassung einer Coronavirus-Impfung. Alle bisher in Europa zugelassenen Impfstoffe bieten einen guten Schutz und werden deshalb von der Ständigen Impfkommission empfohlen.

Es stimmt jedoch auch, dass die sehr frühe Zusage, keine Impfpflicht einzuführen, im Nachhinein irritiert und sicherlich dazu führt, dass Vertrauen in die Verlässlichkeit von Politik verloren geht. Diese Fehleinschätzung müssen wir uns eingestehen. Die AfD versucht diesen Unmut zu instrumentalisieren. Das ist perfide und muss als ein solcher Versuch enttarnt werden. Wir dürfen uns in dieser Pandemie den Kurs aber nicht von den Radikalen und Unbelehrbaren diktieren lassen, sondern notwendige und vernünftige Maßnahmen treffen. Deshalb brauchen wir, auch in Zukunft, eine intensive faire Debatte über die Fragen bezüglich der Pandemie und ihrer Auswirkungen im Bundestag.

Mit freundlichen Grüßen

Helge Lindh, MdB

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