Frage an Hubertus Heil bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Hubertus Heil
SPD
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Frage von Oliver S. •

Frage an Hubertus Heil von Oliver S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Heil,

1. Haben Sie vor Zustimmung zum sogenannten "EU-Vertrag" den gesamten Inhalt gelesen und verstanden?

2. Haben Sie die Wähler vor der Abstimmung über diesen Vertrag richtig aufgeklärt?

3. Finden Sie es nicht höchst undemokratisch, das wir Bürger diese gedruckte Ausgabe dieses EU-Vertrages erst NACH Zustimmung durch Bundestag- und rat als gedruckte Version für uns Bürger erhältlich war?

4. Bei der Euroeinführung wurden die Medien massivst zur Aufklärung eingesetzt, aber bei dieser getarnten Verfassung wollten deutsche Politiker ganz schnell den Beschluß. Finden Sie das nicht ein wenig seltsam?

5. Wenn es um Diätenerhöung oder neue Steuerabgaben geht, können Politiker ganz schnell abstimmen. Aber bei der Einführung zur Volksabstimmung für uns tun Sie sich alle so schwer.
Haben Sie Angst vor uns mündigen Bürgern?

Wir sind gleich, vergessen Sie das bitte nicht. Sie als Politiker haben keine Vorrechte.
Bitte keine schwammigen Antworten, bitte antworten Sie präzise auf die von mir gestellten Fragen.

MfG

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Stang,

vielen Dank für Ihre Anfragen auf abgeordnetenwatch.de, auf die ich
Ihnen gerne antworten möchte.

Da Sie ja explizit betonen, präzise Antworten auf Ihre Fragen bekommen
zu wollen, wähle ich einfachhalber eine identische Nummerierung.

1) Der Vertrag von Lissabon selbst ist als Text nicht leicht verständlich. Das hängt damit zusammen, dass es sich im Gegensatz zu dem 2005 gescheiterten EU-Verfassungsvertrag um einen Änderungsvertrag handelt. Dieser enthält lediglich die Änderungen der geltenden Verträge. Das Gesamtbild, also der neue Vertrag, ergibt sich erst, wenn man diese Änderungen an dem alten Vertrag vornimmt. Der daraus entstehende konsolidierte Text ist sehr viel leichter zu verstehen. Allerdings handelt es sich auch hierbei natürlich noch um einen sehr technischen Rechtstext.

Nichtsdestotrotz habe ich mich ebenso wie meine Kolleginnen und Kollegen aus dem EU-Ausschuss intensiv mit dem Vertragstext befasst. Der zuständige Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages hat hierzu im März und April dieses Jahres Expertengespräche durchgeführt.

Die schlechte Verständlichkeit des Vertrages von Lissabon ist auch dem Umfang der Politikbereiche und der Komplexität des EU-Gefüges geschuldet. Der Vertrag von Lissabon ist aber für den Laien sicherlich nicht schwerer zu verstehen als nationale Änderungsgesetze wie die Gesetze zur Änderung der Sozialgesetzbücher oder des Steuerrechts. Das ist keine Entschuldigung, aber ein Zeichen für die Regelungsdichte des nationalen und Europarechts.

2) Analog zur meiner Antwort auf Frage 1 und in Kombination mit den Möglichkeiten der Informationen, die ich unter 3 anführe, kann ich diese Frage eindeutig mit JA beantworten. Vergleichen Sie hierzu bitte auch meine Antwort auf Ihre Frage bei abgeordnetenwatch.de aus dem März dieses Jahres. Den Kolleginnen und Kollegen des Bundestagsausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union sowie den zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Europäischen Institutionen kann ich eine gute Arbeit bescheinigen.

Das Thema Reform der EU steht seit Jahren auf der europapolitischen Agenda und erfuhr große Aufmerksamkeit. Dennoch -- das zeigen Umfragen -- ist die Europapolitik in den Medien weit weniger präsent als nationale Themen wie z. B. die deutsche Gesundheitsreform. Außerdem verstehen immer weniger Menschen, wie die EU funktioniert -- auch wenn die Zustimmung zur EU Ende 2007 so hoch war wie seit zehn Jahren nicht mehr. In der Bevölkerung besteht demnach großer Erklärungsbedarf, trotz einer grundsätzlich positiven Einstellung zur EU.

3) Es ist gängige Praxis, dass gedruckte Exemplare von Verfassungen o. Ä. erst nach ihrer endgültigen jeweiligen Ratifizierung bzw. Abstimmung gedruckt werden, allein schon aus Gründen des Umweltschutzes. Sie konnten sich aber zeitlich weit im Voraus, spätestens seit der Ratifizierung der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten im Dezember 2007 in Lissabon auf den bekannten Seiten www.europa.eu , bei der Bundeszentrale für politische Bildung oder auch in den Printmedien ausreichend informieren und Texte downloaden oder ausdrucken. Seit Mitte April liegt zudem eine sogenannte konsolidierte Fassung des Vertrags von Lissabon vor. Diese kann im Internet unter

http://eur-lex.europa.eu/JOHtml.do?uri=OJ:C:2008:115:SOM:DE:HTML

aufgerufen oder bei der Bundeszentrale für politische Bildung bestellt
werden.

*Bundeszentrale für politische Bildung*
Adenauerallee 86
53113 Bonn
Tel.: +49 (0)228 99515-0 (Zentrale)
Tel.: +49 (0)228 99515-115 (Kundenberatung)
Fax: +49 (0)228 99515-113
E-Mail: info@bpb.de

Der Vertragstext steht nicht im Gegensatz zum Ziel, Entscheidungen so offen und bürgernah wie möglich zu treffen. Die entscheidende Formulierung lautet "wie möglich": es gibt angesichts von 27 Mitgliedstaaten, mehreren EU-Institutionen und einer Vielzahl komplexer Politikbereiche eine Grenze, verständlich sein zu können. Aber auch wenn es wünschens- und erstrebenswert ist, dass alle Menschen in Europa alles verstehen, müssen wir hinnehmen, dass Detailfragen oftmals nur von Experten beantwortet werden können.

Die ausführliche Beantwortung der Frage 4 erübrigt sich, denn die Argumente, die im Zusammenhang der Komplexität des Vertrages von Lissabon stehen, gelten auch an dieser Stelle. Trotz des eben Gesagten, teile ich Ihre Meinung einer geringen medialen Aufklärung nicht. Ebenso wie die Euroeinführung seit 1999 als Buchgeld, ist auch der Europäische Einigungsprozess seit 1950 ausreichend in den Medien präsent. Der Vertrag von Lissabon bildet dabei den vorläufigen Höhepunkt in diesem Prozess. Vor diesem Hintergrund bringt der Vertrag von Lissabon der Europäischen Union mehr Handlungsfähigkeit, mehr Demokratie und -- wenn auch nicht im Vertragstext -- mehr Transparenz. Die Grundrechtecharta wird rechtsverbindlich, das Europäische Parlament (EP) wird in der Gesetzgebung gleichberechtigt, und die nationalen Parlamente bekommen eine eigenständige Rolle in Subsidiaritätsfragen. Mehr Rechte und mehr Transparenz für Bürgerinnen und Bürger erachte ich als äußerst vorteilhaft und unterstützenswert.

5) Dem politischen System der Bundesrepublik liegt der Grundsatz der repräsentativen Demokratie zugrunde. Das bedeutet, dass die (gewählten, also demokratisch legitimierten) Bundestagsabgeordneten die Bürgerinnen und Bürger vertreten. Volksentscheide sind auf der Ebene des Bundes im Grundgesetz nicht vorgesehen. Artikel 29 Absatz 2 Grundgesetz sieht Volksentscheide ausnahmsweise für den Fall der Neugliederung der Bundesländer vor.

In der repräsentativen Demokratie beauftragen die Bürgerinnen und Bürger ihre Abgeordneten, sich in diese komplexen Themen einzuarbeiten und in ihrem Sinne zu entscheiden. Es ist deshalb richtig, dass die Bundestagsabgeordneten über komplexe internationale Verträge und Bundesgesetze entscheiden, denn dies gehört zu ihrer Aufgabe. Sie sind die Experten, die das erforderliche Fachwissen haben, um Entscheidungen über Verträge und Gesetze zu treffen.

Bürgerbegehren und auch Bürgerentscheide (oder Volksentscheide) sind wünschenswert, wenn es um Belange geht, die die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar betreffen. Beispielsweise kann es sinnvoll sein, die Bevölkerung zu fragen, ob und in welcher Form die Stadtentwicklung verwirklicht werden soll. Ich halte es auch für sinnvoll, dass auf Bundesebene die Möglichkeit eines Bürgerbegehrens eingeführt wird. Dadurch könnte dann eine gewisse Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern eine Gesetzesinitiative einbringen. Der Bundestag hätte sich dann mit diesem Thema zu befassen.

Eine Änderung des Grundgesetzes ist nur mit der erforderlichen Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages möglich. Die hierfür erforderliche Mehrheit ist im Augenblick nicht gegeben, da sich vor allem die Abgeordneten von CDU/CSU gegen eine entsprechende Grundgesetzänderung aussprechen.

Mit freundlichen Grüßen

Hubertus Heil, MdB

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