Frage an Jens Kerstan bezüglich Arbeit und Beschäftigung

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Jens Kerstan
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Axel H. •

Frage an Jens Kerstan von Axel H. bezüglich Arbeit und Beschäftigung

Einen schönen guten Tag Herr Kerstan.

Wie stehen Sie zu den Harz IV Gesetzen?
Fördern und fordern heißt es doch?

Ich habe nun wieder einen Job der mir Spaß macht, weiß aber aus eigener Erfahrung was für ein schreckliches Chaos beim Arbeitsamt herrscht.
1 1/2 Jahre kein einziges Angebot vom Arbeitsamt. Habe in der Zeit etwa 130 Bewerbungen geschrieben. Habe mich auf alles beworben (Personalleasing-Sklave aufm Bau, Küchenhelfer, Lagerarbeiter, Gärtnerhelfer, ..... .).
Wollt nur einfach irgendwas haben, unabhängig von meiner Ausbildung und Berufserfahrung (Fernmeldehandwerker gelernt, dann Fachabitur, Studium Elektrotechnik, Als Systemadministrator gearbeitet). War mir egal, wollte einfach alles machen was angeboten wird!
Nix! Absolut nix vom Arbeit-samt (-Agentur oder wie immer sie sich künftig nennen mögen)!
Bin immer noch mächtig wütend!
Fördern und fordern !? Gefordert wird ne Menge (Finanzielle Offenbarung, Bewerbungsnachweise,..)
aber Förderung? Nix,nada,rien ne vas plus!

Wie konnte Ihre Partei da bloß mitmachen?

Solange Sie nichts weiter machen können als an Arbeitgeber zu apellieren (sie selbst können ja nun mal keine Arbeitsplätze schaffen), ist es da nicht wirklich fair, Hartz IV wieder Rückgängig zu machen?

Übrigens, meine Erfahrungen mit der Arbeitsagentur sind kein Einzelfall !!!!

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Holm,

vielen Dank für Ihre Frage.

Bei aller berechtigten Kritik an dem verkorksten Hartz-IV-Kompromiss und schweren Fehlern bei der Umsetzung stehe ich hinter der Grundidee, die mit Hartz IV verfolgt wird. Es reicht heutzutage nicht mehr aus, Erwerbslosen hauptsächlich den finanziellen Unterhalt zu sichern, sondern es müssen verstärkt Anstrengungen unternommen werden, Erwerbslose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Deshalb halte ich es auch für richtig, nicht mehr für unabsehbare Zeit einen, z.B. bei vorher Gutverdienenden, durchaus hohen Standard mit der Arbeitslosenhilfe abzusichern, sondern anstelle dessen nur eine für alle gleiche Grundsicherung zu zahlen und dafür mehr Geld in die Qualifizierung, Weiterbildung und Arbeitsvermittlung zu stecken. Das bedeutet natürlich für Manche Härten, die aber vertretbar wären, wenn die Vermittlung verbessert und schneller wird. Insofern ist das Prinzip "Fördern und Fordern" aus meiner Sicht richtig und notwendig.

Man muss allerdings ehrlicherweise feststellen, dass das "Fördern" zurzeit überhaupt nicht funktioniert. Ihre schlechten Erfahrungen mit dem "alten" Arbeitsamt werden im Moment in den Jobcentern und der ARGE wahrscheinlich sogar noch negativ übertroffen. Das liegt zum einen an Konstruktionsfehlern des Gesetzes und der Jobcenter, die das Ergebnis der faktischen großen Koalition aus CDU und SPD im Vermittlungsausschuss waren und zu so blödsinnigen Kompromissen geführt haben wie z.B. der gemeinsamen Verantwortung von Bundesanstalt und Kommunen, was dazu führt, dass sich alle gegenseitig blockieren und nichts passiert. Zum anderen muss man aber auch berücksichtigen, dass so große Veränderungen ihre Zeit brauchen, um zu wirken und nach 8 Monaten - selbst wenn alles gut gelaufen wäre - noch keine Trendwende einleiten können. Erfahrungen in anderen Ländern mit vergleichbaren Reformen zeigen, dass eine deutliche Wirkung erst nach Jahren einsetzt.

Was "Fördern und Fordern" betrifft, sind die notwendigen Schritte aus meiner Sicht in der falschen Reihenfolge passiert. Das "Fordern" führt zu harten Belastungen bei den Erwerbslosen, während das "Fördern" noch nicht funktioniert. Die Reihenfolge "erst fördern, und erst wenn das funktioniert zu fordern" wäre sicherlich die bessere Lösung gewesen. Für viele Arbeitssuchende bedeutet die momentane Umsetzung harte Einbußen.

Allerdings ist auch nicht alles an Hartz IV schlecht.
Die Situation für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger hat sich verbessert: ALG II bedeutet für sie zum Teil sogar eine Erhöhung der Bezüge und sie haben nun Anspruch auf aktive Unterstützung, um wieder in Arbeit zu kommen. Für jede Leistung mussten sie viele Wege und oft Diskriminierungen auf sich nehmen. Nun können auch sie wie alle Arbeitslosen die Instrumente der Arbeitsvermittlung und Weiterbildung in den Job-Centern in Anspruch nehmen, sind renten-, kranken- und pflegeversichert. Mit dem Kinderzuschlag werden Familien mit geringen Einkommen vor dem Abrutschen in die Sozialhilfe bewahrt. 180.000 Jugendliche sind aus der Sozialhilfe herausgeholt worden und können nun auch aktive Arbeitsmarktinstrumente in Anspruch nehmen.

Die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln kann positiv auf den Niedriglohnsektor wirken, so dass hier tatsächlich mehr zusätzliche Arbeitsplätze zu erwarten sind. Eine verbesserte Vermittlung kann die Dauer der Arbeitslosigkeit senken. Das sind wichtige Schritte im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit Dennoch müssen wir zugestehen - Vollbeschäftigung ist in absehbarer Zeit nicht zu haben.

Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war aus unserer Sicht allerdings auch aus Gerechtigkeitsgründen richtig und überfällig. Es war schreiend ungerecht, dass Menschen, die es einmal geschafft hatten, einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz zu ergattern im Fall von dauerhafter Arbeitslosigkeit unbegrenzt Arbeitslosenhilfe bekommen haben, die einen Teil ihres Lebensstandards absichert, während z.B. eine allein erziehende Mutter, die wegen ihres Kindes nie einen Job hatte, nur den sehr viel niedrigeren Sozialhilfesatz bekommen hat. Die gleiche Leistung für alle, die dauerhaft arbeitslos sind, ist sehr viel gerechter.

Das ALG II zu niedrig ist und deshalb auch noch keine Grundsicherung darstellt, ist sicher richtig, was wir in Zukunft auch ändern wollen. Genauso wie eine ganze Reihe anderer unsinniger Bestimmungen. Wir wollen zum Beispiel auch nicht, dass die Altersrückstellungen von den Erwerbslosen vor ALG II Bezug aufgelöst werden müssen.

An der konkreten Ausgestaltung von Hartz IV kann man sehen, was von einer große Koalition zu erwarten ist. Sie hat im Vermittlungsausschuss aus einer guten Idee ein bürokratisches und ungerechtes Monster gemacht.

Auch in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes wollen wir trotz aller Kritik klarmachen, dass Hartz IV ein richtiger und notwendiger Schritt war, aber für Bündnis 90 / Die Grünen nicht als Endergebnis der Reform stehen bleiben darf, sondern in wichtigen Aspekten verändert werden muss. Ungerechtigkeiten müssen korrigiert werden und grüne Grundsicherungselemente müssen Hartz IV zu einem Sicherungssystem machen, das armutsfest ist, die Integration in den Arbeitsmarkt fördert und die Autonomie der Empfänger und Empfängerinnen achtet.

Mit freundlichen Grüßen
Jens Kerstan