Frage an Marco Bülow bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Marco Bülow
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Frage von Andreas R. •

Frage an Marco Bülow von Andreas R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Guten Tag Hr. Bülow.

Ich finde Ihr politisches Engagement sehr vorbildlich. Sie üben offen Kritik an Dingen, die nicht in Ordnung sind (mit Ihrem Buch "Abnicker" oder hier am 14.07.2011 zur Abstimmung "Atomausstieg"). Der Atomausstieg / die Energienwende erinnern mich an Großprojekte wie Stuttgart 21...

Dabei ist mir eine wichtige Frage zur Demokratie und Deutschland eingefallen. Vielleicht können Sie mir diese als Abgeordneter im Bundestag beantworten:

Glauben Sie noch daran, dass Deutschland eine Demokratie ist?
Ich meine, so wie es das Grundgesetz fordert.
Ich habe dabei die Art. 20 (1) (Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus) und (4) sowie 21 (Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit) sowie Art. 1 (Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht), Art. 2 (Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit), Art. 3 (Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich), Art. 8 (Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln), Art. 12 (Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden), Art. 13 (Die Wohnung ist unverletzlich), Art. 16a (Politisch Verfolgte genießen Asylrecht), ...

In Sachen EU habe ich an einen demokratischen Grundgedanken immer mehr meine Zweifel. Hier denke ich an die Einhaltung z.B. des Art. 23 (Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.)
Denken Sie, dass dieser Artikel heute noch eingehalten wird, wenn man an Projekte wie INDECT, Fluggastdaten, SWIFT-Abkommen, etc. denkt.

Ich bin sehr auf Ihre Einschätzung gespannt.

Viele Grüße
Andreas Rohrmann

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Sehr geehrter Herr Rohrmann,

zunächst vielen Dank für Ihre Anfrage vom 15. Juli und ihre netten Worte. Bitte entschuldigen Sie, dass es auf Grund der parlamentarischen Sommerpause ein wenig länger mit der Beantwortung gedauert hat.

Nun zu Ihrer Frage: Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass wir in Deutschland in einer funktionierenden Demokratie leben. Dennoch sehe ich einige Entwicklungen der letzten Jahre mit zunehmender Sorge. In meinen mittlerweile neun Jahren als Bundestagsabgeordneter habe ich beobachten können, wie das Parlament, die legitimierte "Entscheidungsmitte" unserer Demokratie, permanent an Einfluss verliert. Wir Abgeordnete werden unserer eigentlichen Verantwortung, das Volk zu vertreten, immer weniger gerecht. Insgesamt droht uns durch die Ökonomisierung der Politik und durch die Selbstentmachtung der Abgeordneten ein deutlicher Demokratieverlust.

Die Entscheidungsmacht verlagert sich zunehmend vom Parlament auf die Regierung. Die Vorlagen der Regierung werden von den Fraktionen überwiegend übernommen und durchgesetzt. Fundamentale Veränderungen und eigene Gesetzesinitiativen werden zur Ausnahme. Die Regierungsfraktionen beugen sich den Vorgaben ihrer Führungen meist ohne großen Wiederstand. Die Abgeordneten scheuen den Konflikt, sie wissen, dass sie sonst intern und öffentlich unter Druck geraten und eher als Unruhestifter, denn als streitbare Demokraten gelten. Die Oppositionsfraktionen haben keine Chance, eine Mehrheit für ihre Positionen zu erlangen und so bleibt die Auseinandersetzung im Parlament meist ein Showkampf. Es ist in Vergessenheit geraten, dass die Abgeordneten die eigentlichen legitimierten Entscheidungsträger in der Politik sind, die vor allem ihrem Gewissen verantwortlich sein sollten (Artikel 38, GG). Fraktions- und Parteispitzen lassen kritischen, inhaltlichen Debatten immer weniger Raum, mit dem Hinweis, dass die Geschlossenheit auf gar keinem Fall gefährdet werden darf. Einwände von Fachpolitikern, der Bevölkerung und der eigenen Parteienbasis bleiben deshalb meist Randnotizen. Die Auslagerung von politischen Entscheidungen in sogenannte Expertengremien und Berateragenturen schwächt die Position der gewählten Volksvertreter zusätzlich.

Die Frage ist wie weit wir uns mit solch einem Gebaren von einem idealen Demokratiemodell entfernen. Einige Politikwissenschaftler, wie der Brite Colin Crouch (Colin Crouch: Postdemokratie, Suhrkamp 2008), geben dazu eine klare Antwort. Sie sprechen von der Postdemokratie: Demnach ist die parlamentarische Demokratie mit freien, periodisch stattfindenden Wahlen und Parteienkonkurrenz formal völlig intakt. Regierungen können abgewählt werden, es gibt keine Pressezensur und es herrscht Gewaltenteilung. Doch hinter dieser funktionierenden Fassade besteht in der Postdemokratie eine Machtstruktur, die sich vom eigentlichen demokratischen System entfernt hat. Eine Elite beherrscht und kontrolliert die politischen Entscheidungen, Wahlkämpfe sind ein von Medien- und Imageberatern kontrolliertes, meist personalisiertes Spektakel. Die Regierungen handeln Gesetze mit Lobbyisten und nicht mit den Parlamenten aus. Politische Entscheidungen werden hinter geschlossenen Türen und dort von wenigen und meist nicht demokratisch legitimierten Personen getroffen. Die Demokratie erleidet einen Substanzverlust und die gesellschaftlichen Kräfte werden zunehmend mit einer politischen Einflusslosigkeit und Ohnmacht konfrontiert, die zwar spürbar ist, aber deren Ursache sie nicht genau identifizieren können. Die Thesen von Crouch und Co sind explosiv und alarmierend. Ich glaube nicht, dass wir den Zustand der Postdemokratie bereits erreicht haben, aber meine persönlichen Erfahrungen im Bundestag zeigen mir, dass wir uns der Postdemokratie gefährlich annähern und endlich umsteuern müssen.

Auch und insbesondere in Bezug auf die Europäische Union gibt es mit Sicherheit demokratische Defizite. Das Europäische Parlament (EP) - das von den Bürger/innen der EU direkt gewählt wird - hat bei einigen Entscheidungen nur begrenzte, teilweise hat es gar keine Entscheidungsmacht. Auch wenn die Kompetenzen des EP in den letzten Jahren immer weiter angewachsen sind, bin ich der Auffassung, dass einer Stärkung des Parlaments auch auf europäischer Ebene ein wichtiger Schritt wäre. Zudem glaube ich auch, dass es unsere Aufgabe ist, die EU nicht als reine Wirtschaftsunion zu sehen und wir deswegen auch eine gemeinsame Sozialpolitik und soziale Verantwortung in den Entscheidungen der EU viel stärker vorantreiben müssen.

Für mich als Abgeordneter ist es ein zentrales Anliegen den Machtverlust der Parlamente zu stoppen und damit unsere Demokratie wieder zu stärken. Politiker aller Parteien müssen die Augen öffnen und sich die Wahrheit eingestehen. Nur dann kann die längst fällige Diskussion über ein modernes demokratisches System wirklich beginnen. Dafür ist es notwendig, dass sich die Medien, besser die gesamte Öffentlichkeit, an dieser Debatte beteiligen und Druck auf die Volksvertreter ausüben. Ein erster wichtiger Schritt wäre es, konstruktiv aufzuzeigen, wie der Einzelne sich denn unsere Demokratie vorstellt: Auf jeden Fall transparenter, sicher mit mehr direkter Mitbestimmung, unabdingbar mit selbstbewussteren Abgeordneten, die bei aller notwendigen Disziplin in erster Linie ihrem Gewissen folgen.

Ich setze mich schon seit einiger Zeit dafür ein, dass eine Solche Debatte angestoßen wird und habe mit meinem Buch "Wir Abnicker" (Econ 2010) und der kurzen Fortsetzung "Wir Abnicker 2.0" (2011) auch Vorschläge entwickelt, wie wir die Krise der Demokratie überwinden können. Auf meiner Internetseite finden Sie unter folgenden Links viele weitere Informationen und Texte zum Themenkomplex Demokratie/Transparenz/Lobbyismus:
http://www.marco-buelow.de/service/veroeffentlichungen/wir-abnicker.html , http://www.marco-buelow.de/service/veroeffentlichungen/wir-abnicker-20.html , http://www.marco-buelow.de/buelow/transparenz.html

Ich hoffe ich konnte Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen.

Mit freundlichen Grüßen

Marco Bülow