Frage an Martin Gerster bezüglich Menschenrechte

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Martin Gerster
SPD
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Frage von Kristin F. •

Frage an Martin Gerster von Kristin F. bezüglich Menschenrechte

Wieso haben sie sich gegen eine Aufnahme gerade auch von besonders schutzbedürftig Geflüchteten entschieden? Die Abstimmung am 04. März hätte die Situation die jetzt vorherrscht vielleicht entschärfen können. Es ist ihre Aufgabe als Mitglied der regierenden Partei Menschenrechte zu wahren. Nach über fünf Jahren ohne große Aktion, ist es jetzt auf jeden Fall an der Zeit zu handeln. Und dazu gehört es, mehr als 150 minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist ein Anfang, aber auch Sie müssen einsehen, dass dies immer noch viel zu wenig ist. Jeder einzelner Mensch dort, hat das Recht auf eine Verwirklichung der Menschenrechte.
Wie würden Sie gerne behandelt werden, wenn Sie seit fast fünf Jahren in einem Zelt hausen würden, versuchen mit all den wahnsinnig schlimmen Erlebnissen Ihrer Vergangenheit klarzukommen und jetzt durch ein Feuer Ihnen alles was Sie noch als Ihren Besitz bezeichnen können genommen wurde?

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Antwort von
SPD

Sehr geehrte Frau Floruß,

viele Zuschriften, die mich in den letzten Tagen erreicht haben, kritisieren das Abstimmungsverhalten der SPD-Fraktion zu zwei Anträgen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und der Linken am 4. März 2020 sowie erneut am 18. September 2020 im Deutschen Bundestag. Die Anträge forderten die Bundesregierung auf, die Blockadehaltung gegenüber den aufnahmebereiten Ländern und Kommunen aufzugeben, eine zügige Evakuierung Morias einzuleiten sowie diese zügig auf europäische Mitgliedsstaaten zu verteilen. Die Anträge wurden mit überwältigender Mehrheit im Deutschen Bundestag abgelehnt. Viele Menschen fragen sich deshalb zurecht: Wenn die SPD diese Ziele verfolgt, weshalb stimmt sie dann gegen einen solchen Antrag?

Grund 1: Auch mit den Stimmen der SPD-Fraktion hätte dieser Antrag keine Mehrheit gehabt. Die Unionsfraktionen CDU und CSU, aber auch FDP und AfD sind mehr oder weniger grundsätzlich gegen eine weitere Aufnahme von Geflüchteten. Es ist ernüchternde Realität, dass es im Deutschen Bundestag aktuell keine Mehrheit für eine wirklich humane Flüchtlingspolitik gibt. Hätte die SPD mit den Grünen und den Linken für diesen Antrag gestimmt, wäre der Antrag also trotzdem abgelehnt worden. Anstelle einer Verbesserung der Situation der Geflüchteten hätten wir nun handfeste Regierungskrise.

Grund 2: Im Koalitionsvertrag – der Arbeitsgrundlage der Regierung aus CDU, CSU und SPD – wurde verabredet, dass die Regierungsfraktionen nur einheitlich abstimmen. Diese Vereinbarung ist eine Notwendigkeit, um verlässliches Regieren zu ermöglichen. Sie bedeutet aber auch: Anträgen wird nur zugestimmt, wenn alle drei Parteien damit einverstanden sind. Bricht eine Partei diese Abmachung, so gibt es kaum noch eine Grundlage für die weitere Zusammenarbeit. Die Union könnte die Regierung insgesamt aufkündigen, oder aber bei zukünftigen Vorhaben ihre Zustimmung verweigern. Beides wäre in der aktuellen Corona-Pandemie fatal. Wir brauchen gerade jetzt eine Regierung, die bei der Eindämmung der Pandemie sowie bei der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen handlungsfähig ist. Deshalb habe ich – trotz meiner Überzeugung, dass wir einen größeren und mutigeren Beitrag Deutschlands bei der Aufnahme Geflüchteter dringend brauchen – gegen den Antrag von Grünen bzw. Linken gestimmt. Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion habe ich meiner Stimme eine sogenannte Persönliche Erklärung nach § 31 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages beigefügt, in der ich diese Entscheidung ebenso wie meine Position für eine humanitäre Flüchtlingspolitik deutlich mache.

Die Bilder aus Lesbos haben auch mich sehr bestürzt. Der Brand im Flüchtlingslager Moria, bei dem 13.000 Menschen ihre Unterkunft sowie all ihr Hab und Gut verloren haben, ist eine humanitäre Katastrophe. Waren die Zustände in den Aufnahmeeinrichtungen schon vorher desolat und der Europäischen Union unwürdig, so sind sie durch die jüngsten Entwicklungen schlicht unerträglich geworden. Das Feuer in Moria steht daher auch für das Versagen Europas in den letzten Jahren, in einer so zentralen Frage mit einer Stimme zu sprechen, Handlungsfähigkeit zu beweisen, und den eigenen Werten und Ansprüchen gerecht zu werden.

Die SPD-Fraktion hat sich deshalb innerhalb der Bundesregierung für Maßnahmen zur umgehenden Verbesserung der Lage vor Ort eingesetzt: Bereits am 11. September haben das Technische Hilfswerk (THW) und das Deutsche Rote Kreuz (DRK) über 1.000 Zelte, 22 Sanitärcontainer, 1.400 Feldbetten, 6.900 Schlafsäcke, 2.500 Decken sowie weiteres Material geliefert. Das ist nur ein erster Schritt, der aber sofort und konkret den Menschen vor Ort hilft.

Darüber hinaus benötigt die griechische Regierung aber dringend weitere Unterstützung: Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen sich solidarisch zeigen, und so schnell wie möglich eine signifikante Anzahl der auf Lesbos ausharrenden Geflüchteten aufnehmen. Der erste „Vorschlag“ des Bundesinnenministers Horst Seehofer, lediglich 150 Menschen aus Moria nach Deutschland zu evakuieren, wurde von meiner Fraktion scharf kritisiert: 150 Menschen werden der Dringlichkeit der Lage sowie der Leistungsfähigkeit Deutschlands in keiner Weise gerecht. Am 11. September haben ich und 94 Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion Bundeskanzlerin Merkel in einem offenen Brief aufgefordert, von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen, und einen höheren Beitrag entsprechend der bereits getätigten Zusagen von Ländern und Kommunen zu leisten.

Nach dieser Intervention der SPD-Fraktion und erheblichem Druck auch der SPD-Parteivorsitzenden auf den Koalitionspartner CDU/CSU, haben sich die Bundeskanzlerin und der Bundesinnenminister inzwischen zur Aufnahme von zusätzlich 1553 Geflüchteten bereiterklärt. Zusammen mit den bisherigen Zusagen Deutschlands seit März 2020 nimmt Deutschland damit 2750 Menschen aus Griechenland auf. Das ist ein Vielfaches dessen, was andere Mitgliedsstaaten aufzunehmen bereit sind. Trotz dieses Kompromisses bleibt die SPD-Fraktion bei ihrer Position, dass wir mehr leisten können und leisten müssen.

Über 180 Städte, Kommunen und Landkreise – darunter übrigens auch meine Heimatstadt Biberach sowie der Landkreis Biberach – haben im Rahmen der „Sichere Häfen“-Initiative bereits ihre Bereitschaft zur humanitären Aufnahme Geflüchteter signalisiert. Viele Bundesländer haben zusätzlich Landesaufnahmeprogramme aufgesetzt. Dieses Engagement und Verantwortungsbewusstsein begrüße ich ausdrücklich!

Nach geltender Rechtslage sind Länder und Kommunen für die Aufnahme Geflüchteter jedoch auf die Zustimmung des Bundesinnenministers angewiesen, die dieser weiterhin verweigert. Auch ein Bundesratsantrag der (rot-rot-grün-regierten) Länder Berlin und Thüringen, diese Zustimmungspflicht im Aufenthaltsgesetz abzuschaffen, ist an der Ablehnung durch die Länder mit Regierungsbeteiligung der Union gescheitert. Meine Fraktion und ich bleiben deshalb bei unserer Forderung: Horst Seehofer muss endlich ermöglichen, dass Bundesländer, Städte und Kommunen ihre Aufnahmebereitschaft auch in die Tat umsetzen dürfen.

Deutschland hat auf europäischer Ebene nachdrücklich dafür geworben, dass geflüchtete Menschen von den griechischen Inseln Lesbos und Samos geholt und in den europäischen Mitgliedsstaaten untergebracht werden. Schon vor den Bränden in Moria haben sich elf EU-Länder plus Norwegen und Serbien an der Aufnahme von Geflüchteten beteiligt. Da sowohl die zugesagten Zahlen im Verhältnis der hilfsbedürftigen Menschen niedrig sind und auch die Umsetzung der bisherigen Zusagen schleppend verläuft, müssen wir uns entschiedener dafür einsetzen, dass auch die anderen europäischen Partner ihre gemeinsame Verantwortung wahrnehmen. Auch hier ist Bundesinnenminister Seehofer gefragt, der sich im Kreis der EU-Innenminister stärker für die Aufnahme Geflüchteter im Rahmen einer europäischen Koalition der Vernunft einsetzen muss. Die deutsche Ratspräsidentschaft ist Chance und Verantwortung zugleich, gemeinsam mit den anderen Mitgliedsstaaten Lösungen zu finden, um die Mittelmeeranrainer langfristig zu unterstützen. Für eine grundsätzliche und langfristig tragfähige Lösung brauchen wir die Neuausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik und des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Wir müssen weg vom Prinzip der Zuständigkeit des Ersteinreisestaates, weg von den Abschottungsstrategien einzelner Mitgliedsstaaten, hin zu einer gerechten und solidarischen Verteilung geflüchteter Menschen innerhalb der EU. Nur so entlasten wir die Staaten an den EU-Außengrenzen und verhindern weitere Flüchtlingslager wie Moria. Dafür setzen wir uns in der Bundesregierung und auf EU-Ebene mit Nachdruck ein.

Mit freundlichen Grüßen

Martin Gerster

 

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