Frage an Martin Schwanholz bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Portrait von Martin Schwanholz
Martin Schwanholz
SPD
Zum Profil
Frage stellen
Die Frage-Funktion ist deaktiviert, weil Martin Schwanholz zur Zeit keine aktive Kandidatur hat.
Frage von Dr. Holger S. •

Frage an Martin Schwanholz von Dr. Holger S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Osnabrück, den 4.4.2007

Sehr geehrter Herr Dr. Schwanholz,

als jahrzehntelanger Verfechter des europäischen Gedankens erfüllen mich die Arbeitsergebnisse der EU-Kommission und des Ministerrates in letzter Zeit mit Argwohn, weil ich die EU-Richtlinien und -gesetze mehr und mehr als Bevormundung der Bevölkerung und als Entmachtung des Deutschen Bundestages empfinde. Ich meine, dass dieser Eindruck von breiten Bevölkerungsschichten geteilt wird. Ist Europa auf dem Weg in eine Bürokratendiktatur? Zu den Hintergründen meines Missempfindens sind zwei Zeitungsartikel der Autoren Roman Herzog mit Lüder Gerken sowie Karl Albrecht Schachtschneider erschienen, die unter
http://www.welt.de/politik/article715345/Europa_entmachtet_uns_und_unsere_Vertreter.html und http://www.welt.de/welt_print/article779393/Ein_Staat_ohne_Legitimation.html nachzulesen sind. Über Ihre Stellungnahme würde ich mich freuen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Holger Schwarzlose

Portrait von Martin Schwanholz
Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Dr. Schwarzlose,

noch einmal vielen Dank für Ihre Anfrage über Abgeordnetenwatch.de.

Da zwischenzeitlich durch Abgeordnetenwatch.de die Links zu den von Ihnen genannten Artikeln richtig eingestellt wurden, werde ich Ihnen gerne alsbald meine Stellungnahme zukommen lassen.

Sollten Sie darüber hinaus weitere Fragen haben, so können Sie sich auch jederzeit gerne direkt an mich wenden, z.B. über meine E-Mail-Adresse martin.schwanholz@bundestag.de .

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Martin Schwanholz, MdB

Portrait von Martin Schwanholz
Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Dr. Schwarzlose,

vielen Dank für Ihre Anfrage, die Sie mir über abgeordnetenwatch.de und nachfolgend in einem ausführlicheren Schreiben persönlich haben zukommen lassen. Ich beziehe mich im Folgenden auf Ihren Brief und die beigefügten Artikel von Roman Herzog und Lüden Gerken sowie von Karl Albrecht Schachtschneider.

Die Europäische Union (EU) steht seit längerem im Zentrum meiner politischen Arbeit in Berlin. Seit 2002 bin ich Mitglied im Ausschuss für Angelegenheiten der EU des Deutschen Bundestages. Davor habe ich mich im Rahmen meiner akademischen Laufbahn mit der europäischen Integration beschäftigt.

Wie Sie bin auch ich ein überzeugter Anhänger der europäischen Einigung. Gerade deshalb liegt mir die Entwicklung in Europa besonders am Herzen und sehe auch ich einige Tendenzen mit großer Besorgnis: die noch immer ungelöste Frage des Verfassungsvertrages, eine gewisse Neigung zur Renationalisierung, das schwindende Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die europäischen Institutionen und nicht zuletzt in die Fähigkeit Europas, die Herausforderungen der Globalisierung zu bewältigen.

Ich habe – gerade weil ich aus meiner eigenen Arbeit weiß, wie die EU funktioniert – Verständnis für die verbreitete Unzufriedenheit mit der EU und die Sorge vor einer zunehmenden Zentralisierung. Vieles von dem, was der EU vorgeworfen wird, ist nicht von der Hand zu weisen: die europäische Gesetzgebung ist sehr komplex und für viele undurchsichtig, die Verfahren sind oft zäh und langsam und nicht selten wird Brüssel als Verschiebebahnhof für nationale Verantwortlichkeiten benutzt. Auch die Resultate sind bei weitem nicht immer zufriedenstellend. Es gibt eine Reihe von Punkten, in denen man der EU einen Mangel an Demokratie, Transparenz und Effizienz vorhalten kann – und auch muss.

Dennoch stimme ich den Analysen und Schlussfolgerungen der oben genannten Autoren in wesentlichen Punkten nicht zu und muss auch Ihnen widersprechen: Ich sehe weder die EU auf dem Weg in eine bürokratische Diktatur, noch die deutsche Demokratie durch die EU ausgehebelt. Sicherlich wird es Sie kaum erstaunen, dass ich insbesondere Ihre Vermutung zurückweise, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages seien faktisch nur noch "Erfüllungsgehilfen" der europäischen Institutionen und mit dieser Rolle überdies zufrieden.

Dazu im Einzelnen: Herzog/Gerken leiten einen wesentlichen Teil ihrer Argumentation aus der vermeintlichen Tatsache her, dass inzwischen mehr als 84 Prozent der deutschen Gesetzgebung de facto in Brüssel entschieden würden. Sie machen daran eine Tendenz zur "sachwidrigen Zentralisierung" fest, leiten einen "Machtverfall des Deutschen Bundestages" ab und bezweifeln die parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik.

Es stimmt, dass heute mehr Gesetzesvorlagen aus Brüssel kommen als vor zwanzig oder gar vor fünfzig Jahren. Tatsächlich sind es jedoch weit weniger Regelungen, als die von Herzog/Gerken genannten Zahl suggeriert. Ich erlaube mir, Ihnen zu dieser Frage einen Artikel von Andrew Moravcsik beizulegen, einem der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der europäischen Integration. Seine Untersuchungen zeigen, dass die "Europäisierung" der deutschen Gesetzgebung bei einer realistischen Betrachtung deutlich unterhalb von 84 Prozent liegt, nämlich bei etwa einem guten Drittel der Gesetzgebung. Im Übrigen variiert dieser Anteil sehr stark je nach Sachgebiet. So stammen in der Umweltpolitik über 80 Prozent der Gesetze aus Brüssel, dagegen im Bereich Inneres nur knapp 13 Prozent.

Unabhängig von der Frage, wie stark der Einfluss Brüssels auf die deutsche Gesetzgebung nun tatsächlich ist: Fest steht, dass seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl deutsche Hoheitsrechte an europäische Institutionen übertragen wurden und dass sich die Kompetenzen der Gemeinschaft in den folgenden Jahrzehnten auf zahlreiche politische Bereiche ausgedehnt haben, auch auf grundgesetzlich relevante Bereiche wie z. B. die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Damit ist zugleich die Frage nach der demokratischen Verfasstheit der EU und der Legitimation europäischer Politik immer zentraler geworden.

Zum ersten ist diese Entwicklung aber nicht einfach über uns gekommen, sondern gründet auf bewussten und gewollten Entscheidungen deutscher Politik. Diese Entscheidungen waren und sind aus meiner Sicht richtig, auch wenn die Gründe dafür unter Konrad Adenauer andere waren als später unter Helmut Kohl, Gerhard Schröder oder Angela Merkel. Die Übertragung von Kompetenzen an europäische Institutionen ist von Beginn an abhängig von der Zustimmung durch Bundesrat und Bundestag und damit bis zuletzt bei der Ratifizierung des Verfassungsvertrags demokratisch legitimiert. Viele der unterhalb der Vertragsebene stattfindenden Entwicklungen sind zudem durch einstimmige Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs auf den Europäischen Gipfeln initiiert worden. Eine Zentralisierung bestimmter politischer Entscheidungen ist daher nicht sachwidrig, sondern im Gegenteil bewusst herbeigeführt worden. Wenn wir die EU ausdrücklich als eine politische Union und nicht als eine fortgeschrittene Freihandelszone verstehen, ist es nur konsequent und richtig, Zuständigkeiten an sie abzugeben.

Zum zweiten gibt es einen gewichtigen und guten Grund für die fortgeschrittene Übertragung von Kompetenzen an die EU: die Globalisierung und der damit einhergehende Verlust der faktischen Gestaltungsmöglichkeiten nationaler Politik. Diese Frage der politischen Handlungsfähigkeit wird in den Beiträgen der Autoren nicht berücksichtigt. Sie ist aber nicht minder wichtig. Eine ganze Reihe von Entwicklungen, gerade im Bereich der globalen Märkte, der internationalen Handels- und Finanzströme, aber z.B. auch im Energiesektor, im Klimaschutz und in der Außen- und Sicherheitspolitik finden außerhalb der deutschen Grenzen statt, haben aber unmittelbare Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft. So wenig wie wir heute in Deutschland allein den Klimawandel bewältigen können, so wenig können wir allein Lösungen für einen grenzüberschreitenden Verbraucherschutz finden.

Wenn Deutschland die Entwicklungen in der Welt mitbestimmen will, dann haben wir nur innerhalb und mit einer starken EU Aussicht auf Erfolg. Die EU ist für die SPD der Weg, Globalisierung menschlich und sozial zu gestalten und die Handlungshoheit der Politik gegenüber einer weltweit agierenden Wirtschaft zu erhalten bzw. zurückzugewinnen. Die Abgabe von Souveränitätsrechten an europäische Institutionen ist deshalb nach meiner Auffassung vernünftig, weil damit für die deutsche Politik ein Zugewinn an Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten einhergeht. Ein einzelner europäischer Staat kann schon heute kaum noch nennenswerten Einfluss auf die Bedingungen der Globalisierung entfalten. Das wissen auch die Bürgerinnen und Bürger. Umfragen zeigen, dass sich die Menschen in vielen Bereichen ein stärkeres Zusammengehen in Europa wünschen, neben der Außen- und Sicherheitspolitik trifft das auch auf Bereiche wie die Sozialpolitik zu, wo weitergehende Kompetenzübertragungen an die EU bisher gar nicht zur Diskussion stehen. Fest steht: Wir brauchen insgesamt mehr und nicht weniger Europa. Das bedeutet nicht, dass die EU nicht demokratischer, transparenter und besser werden muss.

Zum dritten bedeutet die Zuweisung von Kompetenzen an die Gemeinschaft nicht zwangsläufig die Aufgabe parlamentarischer Gestaltungs- und Kontrollmacht durch den Deutschen Bundestag und schon gar nicht das Ende der deutschen Demokratie. Sie stellt aber ihre Akteure vor neue Herausforderungen und trägt ihnen Verantwortung an.

In fast sechzig Jahren europäischer Integration hat sich die EU mit ihren Mitgliedsstaaten zu einem historisch beispiellosen politischen System entwickelt. Auch deshalb wird die EU häufig als ein Gebilde "sui generis" bezeichnet, ein System eigener Art. In dieses politische Gebilde ist die föderale Demokratie der Bundesrepublik eingebettet. Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung handeln und entscheiden innerhalb eines komplexer gewordenen demokratischen Systems, das die europäischen Institutionen, die Regierungen und die Parlamenten der anderen EU-Mitgliedsstaaten umfasst. Nicht zu Unrecht hat daher der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg die EU "das anspruchsvollste Staatsgebilde der Geschichte" genannt.

Das erfordert auch vom Bundestag und seinen Abgeordneten neue Strategien. Seit 1993 sichert Artikel 23 des Grundgesetzes die Mitbestimmung von Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten. Im Zuge der Ratifizierung des europäischen Verfassungsvertrages ist es dem Bundestag gelungen, seine Informations- und Mitwirkungsrechte durch eine neue Vereinbarung mit der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten beträchtlich auszubauen. Unter anderem ist die Bundesregierung nun verpflichtet, im Falle einer Stellungnahme des Bundestages einen Parlamentsvorbehalt bei den Verhandlungen im Rat einzulegen, wenn wesentliche Belange nicht durchsetzbar sind. Um diese Vereinbarung mit der Bundesregierung haben gerade die Abgeordneten des EU-Ausschusses sehr gerungen.

Im parlamentarischen Tagesgeschäft machen sich die verbesserten Mitwirkungsrechte bereits deutlich bemerkbar. Auch das jüngst vom Bundestag und seinen Fraktionen in Brüssel eröffnete Verbindungsbüro beeinflusst die Arbeit sehr positiv und sichert v.a. die frühzeitige Einbindung in europäische Vorhaben. Dass der Bundestag auch zuvor nicht bloßer Vollzieher europäischer Gesetzesvorlagen war, haben die Abgeordneten z.B. bei der EU-Dienstleistungsrichtlinie unter Beweis gestellt.

Überrumpelt fühlen – wie Sie es nennen – muss sich kein Bundestagsabgeordneter durch europäische Vorlagen. Es liegt nun aber mehr denn je der Verantwortung von Abgeordneten und Fraktionen, die Informationen zu bewerten und frühzeitig Einfluss gegenüber Bundesregierung und Kommission geltend zu machen. Die Wirksamkeit der neuen Instrumente hängt letztlich davon ab, wie gut die Abgeordneten des Bundestages sie nutzen. Mit Sicherheit haben sowohl Bundestag als auch Bundesregierung hier noch einen weiteren Lernprozess vor sich.

Ich stimme Ihnen und den genannten Autoren jedoch in einem Punkt zu: Die EU hat ein Demokratiedefizit und dieser Mangel wird umso problematischer, je mehr Zuständigkeiten nach Brüssel übertragen werden. Deshalb fordert diese Entwicklung eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente, eine effektive Subsidiaritätskontrolle und eine Stärkung des demokratischen Charakters der europäischen Institutionen.

In allen diesen Fragen sind die im Verfassungsvertrag vorgesehenen institutionellen Änderungen meines Erachtens ein Schritt nach vorn. Um nur die wichtigsten zu nennen: Das Europäische Parlament würde gestärkt. Die nationalen Parlamente wie der Bundestag würden mit der Möglichkeit einer Rüge und sogar einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof ein effektives Instrument zur Sicherung des Subsidiaritätsprinzips in die Hände bekommen. Im Gegensatz zu Herzog/Gerken und Schachtschneider finde ich es deshalb umso drängender, dass die institutionellen Reformen des Verfassungsvertrags in absehbarer Zeit in Kraft treten. Anders als von Schachtschneider behauptet, macht der Verfassungsvertrag aus der EU auch keinesfalls einen Bundesstaat. Im Gegenteil, erstmals wäre auch der Austritt aus der Gemeinschaft vertraglich festgehalten.

Dass den bestehenden Sorgen mit den im Verfassungsvertrag vorgesehenen Instrumenten besser Rechnung getragen wird, als mit den Vorschlägen von Herzog/Gerken, legt Klaus Hänsch, langjähriges Mitglied des Europäischen Parlaments, in einer Erwiderung auf den Artikel der beiden Autoren in der Zeitung "Die Welt" dar (s. unten stehenden Link). Ich verzichte an dieser Stelle auf eine Widerholung der Argumentation im Einzelnen und lege Ihnen diesen Artikel ebenfalls bei. Für bedenkenswert halte ich allerdings die von Herzog/Gerken vorgeschlagene Einführung des Diskontinuitätsprinzips für die europäischen Institutionen.

Sehr geehrter Herr Dr. Schwarzlose, ich bedanke mich noch einmal für Ihr Engagement und hoffe sehr, dass Sie den Schlussfolgerungen der von Ihnen angeführten Autoren nicht restlos zustimmen, insbesondere nicht dem von Prof. Schachtschneider geforderten Austritt aus der EU. Bei allen Mängeln und aller zum Teil berechtigten Kritik, ist die EU ein historisch beispielloses Erfolgsmodell, auf das die Europäerinnen und Europäer stolz sein können. Mit den Mitteln der europäischen Integration ist es gelungen, aus jahrhundertelang verfeindeten Nationen wie Deutschland und Frankreich Partner zu machen und Frieden zu sichern. Diesen Wert können wir in meinen Augen auch über sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gar nicht hoch genug schätzen. – Ausruhen können wir uns darauf selbstverständlich nicht.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Martin Schwanholz, MdB

Klaus Hänsch, Auf dem Holzweg in die Sackgasse, 27.1.2007:
http://www.welt.de/politik/article711760/Auf_dem_Holzweg_in_die_Sackgasse.html