Frage an Sahra Wagenknecht von Erik N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Wagenknecht,
ich habe in dieser Woche mit Interesse einer Diskussionsrunde im mdr-Fernsehen zugesehen, an der auch Sie beteiligt waren.
Um nicht lange auszuschweifen, möchte ich meine Fragen einfach halten und auf den Punkt bringen:
1. Meinen sie es wirklich ernst mit dem Satz "In der DDR war nicht alles schlecht."? Wenn ja, möchte ich sie bitten zu erläutern, was dort so gut war. Und zwar bitte ich Sie um Beispiele, hinter denen nicht pragmatische Parteilogik und -kalkül der ehemaligen SED standen oder die zum wirtschaftl Desaster beitrugen, sondern die alleine dem Wohle der Bevölkerung dienten.
2. In der Sendung wurde der Eindruck erweckt, Sie seien der Überzeugung, dass Tatsachen wie politische Inhaftierung, Folter, Beschneidung der Menschen- und Bürgerrechte, Schießbefehl und katastrophale Zustände im Sozialsystem lediglich auf Einzelfälle zutreffen. Kann das wirklich Ihr ernst sein?
Eine Antwort würde mich freuen und sicherlich dazu beitragen besser zu verstehen, für was Sie eigentlich stehen. In meiner Umgebung versteht man es eher nicht, sondern ist vielmehr empört über Teile Ihrer Argumentationen.
Mit freundlichen Grüßen
Erik Noichl
(Vorsitzender der Jungen Union Kelkheim)
Sehr geehrter Herr Noichl,
ich glaube, dass die Menschen im Osten sehr wohl wissen, dass die DDR gravierende Demokratiedefizite hatte, dass zu oft über ihre Köpfe hinweg, zu sehr von oben administrativ entschieden wurde, dass es erhebliches Unrecht gab. Jene, die den untergegangenen Sozialismus noch im bewussten Sinne erlebt haben, verklären ihn nicht. Aber sie wissen angesichts ihrer Lebensrealität heute, was es wert war, sich keine Sorgen um Gesundheit, Arbeitsplätze und die Ausbildung der Kinder machen zu müssen. Im Bildungssystem gab es im Gegensatz zu heutigen Verhältnissen keine soziale Ausgrenzung, die Kinder lernten gemeinsam bis zur zehnten Klasse. Heute wird in zunehmendem Maße sozial selektiert. So gibt es in mehreren Bundesländern für viele junge Menschen unbezahlbare Studiengebühren, überhöhte Gebühren für Plätze in Kindertagesstätten, teure Bücher, usw. Oder nehmen wir das Gesundheitssystem der DDR: Man musste nicht rechnen, ob das Geld für einen Zahn-Ersatz reicht. Arztbesuche waren kostenlos. Heute muss man für Arztbesuche Eintrittsgebühren bezahlen, beträchtliche Summen für Medikamente ausgeben. Zunehmend mehr Menschen arbeiten heutzutage - wenn sie denn überhaupt noch Arbeit haben - im Niedriglohnbereich für menschenunwürdige Löhne. Die Schere zwischen Armen und Reichen geht immer weiter auseinander. Ist es in diesem Zusammenhang nicht merkwürdig, dass sich eine kleine und ökonomisch deutlich schwächere DDR soziale Dinge leistete, die heute aus Sicht der Neoliberalen angeblich nicht mehr bezahlbar sein sollen und abgeschafft werden?
Die Umfrage aus der MDR-Sendung im April 2008, nach der 78 % meinten, die positiven Seiten an der DDR überwogen die negativen, sagt doch vieles über die Lebenserfahrungen der Ostdeutschen aus. Ich denke, man sollte diese Erfahrungen fast 20 Jahre nach dem Ende der DDR endlich zu berücksichtigen lernen. Für eine differenzierende Analyse und Bewertung der Vergangenheit, die den Lebenserfahrungen der Ostdeutschen gerecht wird, gehören die negativen wie auch die positiven Aspekte des DDR-Sozialismus. Beide Seiten muss man nennen, wenn man sachlich und nicht instrumentalisierend mit Geschichtsfragen umgehen will.
Mit freundlichen Grüßen
Sahra Wagenknecht