Frage an Ulrich Goll bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Ulrich Goll
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Frage von Anna W. •

Frage an Ulrich Goll von Anna W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Goll,

mein Name ist Anna Wehrheim und ich bin Schülerin der 12 Klasse des Gymnasiums am Römerkastell in Alzey. Im Rahmen meiner Facharbeit "Von der Politikverdrossenheit der Bürger zur Bürgerverdrossenheit der Politiker- Befindet sich die repräsentative Demokratie in der Krise?" beschäftige ich mich unter anderem mit der sich wandelnden Protestkultur in unserem Land und interessiere mich deshalb für Stimmen von Bürgern und Politkern zu ihrem subjektiven Empfinden des Verhältnisses von den Regierenden zu den Regierten.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich in meiner Arbeit unterstützen könnten, indem Sie den angehängten Fragebogen beantworten.
Schon jetzt vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe.

Mit freundlichen Grüßen

Anna Wehrheim

1) Wie bewerten Sie die aktuelle Protestkultur in Deutschland, im Hinblick auf die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und die Proteste gegen Castortransporte?

2) Wie bewerten Sie die momentan praktizierte Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit?

3) Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um diese Kommunikation in Zukunft aufrechtzuerhalten, beziehungsweise zu verbessern?

4) Halten Sie persönlich Volksentscheide auf Bundes- und/ oder Länderebene für sinnvoll?

5) Haben Sie alternative Vorschläge, die Bürger besser in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden und die Akzeptanz der Bevölkerung für bereits getroffene Entscheidungen zu erhöhen?

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Antwort von
FDP

Sehr geehrte Frau Wehrheim,

vielen Dank für Ihre Anfrage auf abgeordnetenwatch.de. Ihre Fragen beziehen sich auf die aktuelle Diskussion über die parlamentarische und die direkte Demokratie.

In einem demokratischen System geht alle Staatsgewalt vom Volk aus. So sehen es das Grundgesetz in Artikel 20 Abs. 1 Satz 1 und die Landesverfassung in Artikel 25 Abs. 1 Satz 1 vor. Das heißt aber nicht, dass Bürgerinnen und Bürger über alle Fragen unmittelbar selbst entscheiden. Vielmehr wird die Staatsgewalt grundsätzlich durch Organe der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Gesetzgebung ausgeübt, die das Volk repräsentieren.

Ich glaube, dass sich das deutsche System der repräsentativen Demokratie grundsätzlich bewährt hat. Es kann aber durchaus in einzelnen Bereichen durch unmittelbare Bürgerbeteiligungen außerhalb von Wahlen noch weiter gestärkt werden. Hierdurch kann "das Volk" noch besser eingebunden werden. Für die Entscheidungsträger können sich zudem wesentliche Erkenntnisse ergeben. Eine Bürgerbeteiligung zu Beginn eines Entscheidungsprozesses sehe ich deshalb grundsätzlich positiv. Eine unmittelbare Form der Bürgerbeteiligung ergibt sich auch durch das Demonstrationsrecht, einem wichtigen Pfeiler unseres demokratischen Systems. Demokratie findet deshalb nicht nur im Parlament oder bei Wahlen statt.

Nicht jede Form der Bürgerbeteiligung ist aber demokratisch, nur weil sie sich selbst dafür hält. Die Sitzblockade bietet keine bessere Diskussionskultur und selbst ernannte "Parkschützer" sind keine mit höheren Weihen versehenen "wahren" Volksvertreter. Es ist wichtig, dass ein Rechtsstaat zu seinen Entscheidungen steht, sie durchsetzt und sich nicht im Nachhinein auf den Druck kleiner, aber lautstarker Gruppierungen wieder umstößt. Sonst ist stets der laute Protestierer im Vorteil gegenüber der stillen auf den Rechtsstaat vertrauenden Mehrheit.

In der Landesverfassung Baden-Württemberg ist - anders als auf Bundesebene - bereits die Gesetzgebung durch Volksbegehren und Volksabstimmung vorgesehen, was ich grundsätzlich gut finde. Die Anforderungen der Landesverfassung stellen sicher, dass nicht schon kleinere aktive Gruppen mit einfachen Mehrheiten zu Lasten der Mehrheit allgemein gültige Regelungen veranlassen können. Angesichts des bereits seit Jahren bestehenden Wunsches nach mehr direkter Volksbeteiligung hatten wir in der Koalitionsvereinbarung für die nun ablaufende Legislaturperiode eine Erleichterung vorgesehen: Ein nach Volksbegehren zur Volksabstimmung gestelltes Gesetz sollte schon dann beschlossen sein, wenn es die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen findet und diese Mehrheit mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten ausmacht; bisher ist die hohe Hürde eines Drittels der Stimmberechtigten vorgesehen. Einen entsprechende Änderung der Landesverfassung hat die Opposition aber leider abgelehnt.

Ich hoffe, dass in der kommenden Legislaturperiode zwischen den Parteien ein angemessener Kompromiss über eine behutsame Senkung der Anforderungen bei Volksbegehren und -abstimmungen möglich sein wird. Das FDP-Regierungsprogramm sieht dies vor. Auch einer Volksinitiative mit einer Behandlungspflicht des Landtags über das entsprechende Thema stehe ich offen gegenüber. Wichtige Vorarbeiten hierzu könnten in der von der Landesregierung bereits vorgeschlagenen Enquete-Kommission geleistet werden. In dieser sollte eine offene, überparteiliche Diskussion und Abwägung zur Zukunft der parlamentarischen Demokratie im Land - auch unter Berücksichtigung der Erfahrungen in anderen Ländern - geführt werden.

Auf kommunaler Ebene haben wir die Anforderungen für einen Bürgerentscheid schon im Juli 2005 gesenkt. Hier haben wir das für einen Bürgerentscheid erforderliche Zustimmungsquorum auf ein Viertel der Stimmberechtigten deutlich gesenkt. In der Praxis hat das - wie beabsichtigt - zu einer steigenden Zahl von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden geführt. Etwaigen weiteren Änderungen in der kommenden Legislaturperiode stehe ich offen gegenüber. Durch die Bürgerbeteiligung kann vor allem die Akzeptanz der Projekte gefördert werden. Auch kann die Kompetenz der Bürger und Betroffenen bei der Entscheidungsfindung eingebunden werden. Dies hat auch das Schlichtungsverfahren bei Stuttgart 21 gezeigt, obwohl dort die Legitimation mancher Beteiligter fraglich erscheint.

Wichtig ist mir insgesamt, dass eine Bürgerbeteiligung frühzeitig während der Planungsphase durchgeführt wird. Sie ist aber untauglich, wenn alle Entscheidungen bereits rechtsverbindlich getroffen und bestätigt worden sind. Nach den Erfahrungen mit S21 wollen wir der Bürgerbeteiligung bei Vorhaben mit überörtlicher Bedeutung in Zukunft noch mehr Gewicht geben. In der Landesregierung haben wir daher am 1. März 2011 eine Bundesratsinitiative gestartet, mit der die Bürgerbeteiligung bereits im Vorfeld dieser Vorhaben auf eine breitere Grundlage gestellt wird. Die Beteiligung kann jedenfalls nicht erst dann erfolgen, wenn wie bei S21 schon jahrzehntelang geplant und entschieden wurde, alle Verträge geschlossen sind, der Rechtsweg bis in die letzte Instanz ausgeschöpft ist und die Umsetzungsmaßnahmen begonnen haben. Hier sind auch die Rechtssicherheit und der Vertrauensschutz zu beachten.

Bei einer etwaigen Erweiterung der Bürgerbeteiligung ist letztlich immer eine Abwägung erforderlich: Auch wenn man, wie ich, eine Bürgerbeteiligung grundsätzlich für sinnvoll und begrüßenswert hält, muss man darauf achten, dass bei der Entscheidung eine ausreichende demokratische Legitimation sichergestellt ist. Bei komplexen Güterabwägungen, etwa mit kollidierenden grundrechtlichen Positionen oder beim Schutz von Minderheiten, kann es fraglich sein, ob die Entscheidung unmittelbar auf die Bürger übertragen werden kann oder sollte. Dies zeigt etwa die Abstimmung über das Minarettverbot in der Schweiz. Es darf auch nicht sein, dass nur eine relativ kleine Minderheit unter dem Motto "Wir sind das Volk" entscheiden kann. Die Entscheidungen müssen tatsächlich eine breite Basis im ganzen Volk haben. Soweit die gewählten Volksvertreter entscheiden, ist eine derartige ausreichende demokratische Legitimation gewährleistet.

Ich hoffe, Ihnen mit meinen Ausführungen weitergeholfen zu haben.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Prof. Dr. Ulrich Goll MdL