Frage an Winfried Nachtwei von Tilo M. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Hr. Nachtwei,
mich würde Ihre Position und deren Begründung zur Verlängerung des ISAF-Mandats interessieren.
Mit freundlichen Grüßen,
Tilo Meißner
Berlin, 4.12.2007
Sehr geehrter Herr Meißner,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 11. November und Ihr Interesse an der Entwicklung in Afghanistan. Ich freue mich, dass Sie mir die Gelegenheit geben, meine Position zur Verlängerung des ISAF-Mandates darzulegen. Vielleicht laufen wir uns ja mal in (Münster) Gievenbeck über den Weg, wo ich seit bald 25 Jahren wohne, allerdings nur zum geringsten Teil anwesend bin.
Der Bundestag hat am 12. Oktober dem Antrag der Bundesregierung zur Verlängerung der deutschen Beteiligung an ISAF sowie der Zusammenlegung der Mandate für den ISAF-Einsatz und den Einsatz der Tornadoaufklärungsflugzeuge mehrheitlich zugestimmt. Ich habe mich wie die Mehrzahl meiner Fraktionskolleginnen und -kollegen der Stimme enthalten, um damit meine seit mehr als einem Jahr vorgebrachte Kritik an der unzureichenden Afghanistanpolitik der Bundesregierung zu unterstreichen und zugleich die Abzugs-Botschaft eines „Nein“ zu vermeiden. (Meine persönliche Erklärung zur Mandatsabstimmung von ISAF/Tornado im Bundestag finden sie auf meiner Homepage unter www.nachtwei.de/index.php/articles/596 ).
Grundsätzlich: Auch wenn die Aussage falsch und irreführend ist, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt. Stabilisierung und Aufbau in Afghanistan sind von hohem internationalen und auch deutschen Sicherheitsinteresse, weil Afghanistan nicht wieder das Rückzugs- und Ausbildungsgebiet für Abertausende internationale terroristische Kämpfer werden darf. Es ist zweitens eine Frage der Solidarität mit einer Bevölkerung, die über 22 Jahre Krieg erlebt hat, die einerseits unter der zynischen-brutalen Einmischung fremder Mächte zu leiden hatte – und andererseits nach 1989 unter dem Desinteresse der Internationalen Gemeinschaft.
Ich will keine Ermutigung der verschiedenen Gewaltakteure und eine Entmutigung der demokratischen Kräfte in Afghanistan. Wo es um Staatsaufbau im Auftrag und mit Unterstützung der UN geht, wo es kaum ein internes Gewaltmonopol, aber viele starke Gewaltakteure gibt, da ist militärische Friedenssicherung unumgänglich. So lange der zivile Aufbau nicht durch afghanische Sicherheitskräfte abgesichert werden kann, so lange ist daher der Abzug von ISAF und Bundeswehr für mich keine verantwortbare Option. Die Gleichsetzung von ISAF gleich „Besatzer“ gleich Enduring Freedom, als sei alles Krieg, halte ich für falsch. In Wirklichkeit unterscheidet sich ISAF sehr von Region zu Region. Im Norden, dem deutschen Hauptverantwortungsbereich, ist ISAF eindeutig eine Unterstützungs-truppe, Stabilisator in einem Umfeld vieler Gewaltakteure, ausdrücklich keine Besatzungs-truppe. Ein Rückzug von ISAF würde den Norden destabilisieren und auf ganz Afghanistan ausstrahlen. Er hätte Signalwirkung für andere Nationen und Organisationen. Ausschlaggebend ist dabei die Legitimation und Akzeptanz. Die militärische Absicherung durch ISAF ist von der afghanischen Regierung gewünscht und von den Vereinten Nationen legitimiert. Sie wird – und das ist letztlich entscheidend - ebenso von der Mehrzahl der Afghaninnen und Afghanen gewünscht. Deutlich kann man das an den Ergebnissen der erst gestern veröffentlichten Umfrage von ARD, ABC und BBC sehen. (Die Ergebnisse finden Sie unter www.tagesschau.de). Und auch die meisten Hilfsorganisationen unterstützen, trotz ihrer Distanz zur Bundeswehr, eine internationale Sicherheitspräsenz.
Gleichzeitig habe ich massive Kritik an der Afghanistanpolitik der Bundesregierung. Mit ihrem Festhalten an der Operation Enduring Freedom verfolgt die Bundesregierung einen falschen Kurs und setzt mit den Tornados einen falschen Schwerpunkt. (Mein ausführliches Hintergrund- und Positionspapier zu OEF finden Sie auf meiner Homepage unter http://www.nachtwei.de/index.php/articles/615 und meine Bewertung zum Tornado-Einsatz unter www.nachtwei.de/index.php/articles/c36/?startnum=19 ) Der zivile und polizeiliche Aufbauprozess, der den Kern des deutschen und internationalen Engagements ausmachen müsste, wird demgegenüber sträflich vernachlässigt.
Deutschland steht als so genannte „lead-nation“ für den Polizeiaufbau hier in besonderer Verantwortung. Dass die Bundesregierung für den Polizeiaufbau die EU als Schlüsselpartner gewinnen konnte, ist richtig. Allerdings sind die knapp 200 Polizeibeamten, von denen bisher noch nicht einmal 100 im Land sind, viel zu wenige, um landesweit Polizeikräfte ausbilden zu können. Wir brauchen mindestens das Zehnfache. Die USA wollen die Polizei zu einer Aufstandsbekämpfungstruppe machen. 2.500 Soldaten und 1.000 zivile Polizeiausbilder, überwiegend von privaten Sicherheitsfirmen, sollen möglichst viele Afghanen ausbilden und ins Gefecht führen. Das ist unverantwortlich. Wir brauchen Ausbilder, die mit Bedacht eine afghanische Zivilpolizei aufbauen. Dass wir diese Kräfte in Deutschland und Europa nicht haben, und die USA zweifelhafte private Sicherheitsfirmen mit dieser Aufgabe betrauen, zeigt, dass unsere Instrumentarien zur Friedenssicherung und zum Aufbau tragfähiger Strukturen militärfixiert und auch militärlastig sind. Eine Kernlehre aus Afghanistan muss sein: Wir brauchen eine anders gewichtete, zivilere und polizeilichere Architektur zur Krisenprävention und zur internationalen Friedenssicherung. In unserem im November diesen Jahres in den Bundestag eingebrachten Antrag „Ohne Polizei und Justiz keine Sicherheit – Den Polizei- und Justizaufbau in Afghanistan drastisch beschleunigen“ fordern wir daher „dem Bundestag binnen sechs Monaten ein Konzept vorzulegen, wie die Bundesregierung die rasche und effiziente Handlungsfähigkeit Deutschlands im Bereich des Aufbaus staatlicher, polizeilicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen im Rahmen von internationalen Friedenseinsätzen verbessern will und welche Schritte sie diesbezüglich bereits in die Wege geleitet hat.“ ( http://www.dip1.btg/btd/16/069/1606931.pdf )
Als jemand, der inzwischen acht Mal vor Ort war, bin ich mir zugleich der Grenzen meiner Afghanistan-Kenntnisse bewusst. Allerdings wird mir jedes Mal deutlicher, wie sehr sich eine Pauschalwahrnehmung dieses geographisch, ethnisch und politisch extrem zerklüfteten Landes und des Agierens der heterogenen und oft widersprüchlichen Internationalen „Gemeinschaft" verbietet. Viel zu oft auch wird die sehr unterschiedliche afghanische Realität reduziert auf ein geschlossenes Katastrophengemälde und werden die Fortschritte neben den Rückschritten ignoriert.
ISAF ist keine Besatzungsmacht und die Vereinten Nationen keine Ersatzregierung. Deshalb müssen die Afghaninnen und Afghanen selbst viel mehr Verantwortung und Eigeninitiative zeigen. Nur sie können den innergesellschaftlichen Versöhnungs- und Aufbauprozess so gestalten, dass er nach einem Abzug der internationalen Staatengemeinschaft trägt. Dies gilt für Parlament und Zivilgesellschaft, aber insbesondere für die Zentralregierung, die in manchen Bereichen Teil des Problems ist. Die Vielzahl der internationalen Institutionen und Hilfsorganisationen können nur unterstützen. Art und der Umfang, wie die zivile Hilfe geleistet wird ist – gelinde gesagt – suboptimal. Wir brauchen nicht nur einen militärischen, sondern auch einen zivilen Kurswechsel. Das ist auch, aber nicht nur, eine Frage des Geldes. Wenn Deutschland im nächsten Jahr seine Hilfe verdoppeln würde und sich danach zum Ziel setzt, mindestens ebenso viel in den zivilen und polizeilichen Bereich zu investieren, wie in den militärischen, wäre schon viel getan. Aber insgesamt brauchen wir eine bessere nationale und internationale Koordinierung und Schwerpunktsetzung. Die Hilfe muss bei den Afghaninnen und Afghanen und nicht vorrangig bei den Hilfsorganisationen und Geberländern ankommen.
Wie keine andere Partei haben die Grünen in den vergangenen Monaten intensiv über Afghanistan diskutiert. Keine andere Partei hat es gewagt, das „Für“ und „Wider“ eines militärischen Einsatzes in Afghanistan auf einem Sonderparteitag öffentlich zur Abstimmung zu stellen. Dass wir dies als Oppositionspartei getan haben, zeigt, dass wir an einer differenzierten und verantwortungsbewussten Politik interessiert sind, die den Menschen in Afghanistan dient und die internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen bei der Wahrnehmung kollektiver Friedenssicherungsaufgaben unterstützt und stärkt. Nach 2001 haben wir Grünen auf den Petersberg-Konferenzen mit dazu beigetragen, dass die Entwicklung in Afghanistan auf ein militärisch abgesichertes, aber primär politisches und ziviles Gleis gesetzt wird. Dieser Politik fühlen wie uns nach wie vor verpflichtet.
Ich hoffe, ich habe Ihre Frage hinreichend beantwortet und verbleibe mit freundlichen Grüßen.
Winfried Nachtwei