Frage an Achim Ritter bezüglich Wirtschaft

Achim Ritter
DIE LINKE
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Frage von Andreas G. •

Frage an Achim Ritter von Andreas G. bezüglich Wirtschaft

Sehr geehrter Herr Ritter,

Ihre Partei setzt sich gegen die angebliche neoliberale heutige Politik der etablierten Parteien ein und kritisiert den heutigen Raubtierkapitalismus - beides gängige Schlagworte in der aktuellen Diskussion.

Wir haben ein staatliches Bildungswesen, ein staatliches Gesundheitswesen und ein staatlichem Rentensystem, einen Staatsanteil am Sozialprodukt von über 50 Prozent, staatlich gelenkte Agrarmärkten, staatlich regulierte Arbeitsmärkten, staatliches Papiergeld und eine korporativistische Funktionärsautokratie.

Halten Sie es wirklich für sinnvoll, das "kapitalistisch" zu nennen, also einen Begriff zu verwenden, der für Privateigentum, Privatautonomie, Eigenverantwortung, Freiwilligkeit und private Vertragsbeziehungen steht?

Was bitteschön ist daran kapitlistisch? Wo ist der Neoliberalismus, von dem Ihre Partei immer redet?

Vielleicht erklären Sie mir mal, was Sie konkret unter Neoliberalismus verstehen? Ich hatte darunter bisher einen ordoliberalen Staat Hayekscher Prägung verstanden, welcher der Ökonomie ein paar Rahmenbedingungen setzt und sich ansonsten raushält, sehe Deutschland davon aber weiter entfernt als von den ehemals real existierenden Sozialismen jenseits des berüchtigten Schutzwalls.

Helfen Sie mir auf die Sprünge?

Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Goertz,
"auf die Sprünge helfen" werde ich Ihnen nicht, da mir so etwas nicht zusteht.

Gern nutze ich jedoch die Gelegenheit Ihnen auf die gestellten Fragen zu antworten.
Einleitend möchte ich Sie jedoch davon in Kenntnis setzen, dass jedes heutige Gemeinwesen einschließlich der führenden Industriemacht dieses Planeten einige grundlegende Dinge der Daseinsvorsorge in die Obhut des Staates gelegt hat. Mit dieser Aufgabenzuweisung an die Ordnungsmacht Staat wurde und wird der Erkenntnis Rechnung getragen, dass nicht alle gemeinschaftlichen Aufgaben privatwirtschaftlich zum Wohle der Gemeinschaft erledigt werden können.
Insbesondere gegenüber den USA wird jedoch daraus kein Mensch dieser Welt ableiten, dass das dortige System auch nur in Teilen "sozialistisch" wäre.
Für die Bundesrepublik Deutschland gilt zudem im Bereich des Bildungswesens, des Gesundheitswesens und für das Rentensystem, dass neben den staatlichen Institutionen auch private Leistungsanbieter zu finden sind. Hierbei kann also keinesfalls von einem ausschließlich staatlichen System die Rede sein..
Die von Ihnen angesprochene staatliche Lenkung der Agrarmärkte wurde gerade in den letzten Jahren auf eine staatliche Abgeltung gemeinschaftlicher Aufgaben insbesondere in der Natur- und Landschaftspflege umgestellt. Diese staatlichen Hilfen sind erforderlich, damit das in den Landwirtschaftsbetrieben zu erwirtschaftende Einkommen eine sichere Existenz trotz anhaltenden Preisverfalls bei den Erzeugerpreisen für landwirtschaftliche Produkte ermöglicht. Das wegen unnötiger Transporte bei den international arbeitsteilig organisierten Verarbeitungs- und Veredelungsprozessen sowie durch zum Teil spekulativen Zwischenhandel die Endverbraucherbreise diesen Verfall der Erzeugerpreise nicht widerspiegeln, ist eine direkte Folge der kapitalistischen Gewinnmaximierung in diesen Bereichen.
Die staatliche Regulierung des Arbeitsmarktes beschränkt sich in der Bundesrepublik auf die Verwaltung der Arbeitslosenversicherung, die Vermittlung von Arbeitslosen in verfügbare Stellenangebote sowie die "Verwaltung" des infolge eines ungeheuren Produktivitätsfortschrittes unserer Wirtschaft mittlerweile dauerhaften Überangebotes an Arbeitskräften. Auch in diesem Bereich wurden und werden gerade in den letzten Jahren mit den Deregulierungen durch Installation privater Jobvermittler verstärkte Anstrengungen zur Privatisierung unternommen.
Zu diesen von mir beschriebenen Entwicklungen kommt hinzu, dass der Kernbereich unserer Wirtschaft, nämlich Industrie und Handel nahezu komplett Privateigentum ist und damit der Privatautonomie, der Eigenverantwortung, der Freiwilligkeit und den privaten Vertragsbeziehungen unterworfen ist. Dies gilt vor allem auch, wenn staatliche Stellen im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung Leistungen der Privatwirtschaft in Anspruch nehmen. Hier gilt im Rahmen der Ausschreibungsverfahren das der Privatwirtschaft ?entliehene? Vertragsrecht einschließlich aller damit verbundenen zum Teil auch betrügerischen und damit kriminellen Nebenerscheinungen (z. B. Korruption). Zunehmend wird staatliches Eigentum z. B. öffentliche Wohnungsbaugesellschaften, öffentliche (Sozial-)Wohnungsbestände sowie neuerdings vermehrt auch öffentliche Infrastruktur wie Schulen, Straßen, ... entweder geschlossen, veräußert oder anderweitig privatisiert.
Ich verweise hier nur auf die diversen Vorhaben zum Public-Private-Partnership (PPP) das in der Konsequenz vor allem die öffentliche Armut forciert, weil Belastungen und Risiken auf den beteiligten öffentlichen Partner abgewälzt werden, damit dem privaten Investor satte Gewinn- und Renditemargen garantiert werden können. Diese Verzweiflungstaten einer durch ständige Senkungen gerade der Spitzensteuersätze bei Einkommens- und Unternehmenssteuern auf allen Verwaltungsebenen komplett ausgeplünderten öffentlichen Hand dienen einzig und allein dem Zweck des kurzfristigen "Stopfens" vorhandener Haushaltslöcher.
Gleichzeitig werden durch die wirksamen "freien Kräfte des Marktes" immer größere Teile der ehemals abhängig beschäftigten Bevölkerung aufgrund von Produktivitätsfortschritten und den auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Rationalisierungsmaßnahmen dauerhaft aus dem Produktionsprozess freigesetzt, um künftig ihr Dasein von staatlichen Almosen zu fristen. Diese Almosen werden jedoch mit kapitalistischer Intervention getarnt als Hinweis auf die vermeintliche Unfinanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme immer weiter zusammengestrichen. Hartz IV soll nach Aussage der etablierten Parteien (CDU/CSU, FDP, SPD und GRÜNEN) ja nur ein erster Schritt bei dieser "Umstrukturierung" sein.
Zusätzlich werden verstärkt Leistungen aus diesem Sicherungssystem herausgenommen (z.B. Kürzungen im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen
oder Ergänzung des staatlichen Rentensystems um eine sogenannte "dritte Säule" der privaten Vorsorge auf Versicherungsbasis wie z.B. der "Riester-Rente" ). Die Betroffenen werden dann infolge ihrer prekären Finanzsituation gezwungen, sich zu entscheiden zwischen einer buchstäblich vom Munde abgesparter privaten Vorsorge oder dem vollen Risiko der Versicherungslosigkeit ausgesetzt zu sein.
Der Druck zu verstärkter privater Vorsorge führt zu weiteren Lebensrisiken, weil die zu Zeiten der Beschäftigung als gerade noch finanzierbar eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen auch im Falle der Beschäftigungs- und Einkommenslosigkeit weiterlaufen und damit den Einstieg in die Überschuldung zur Folge haben. Dies wird eindrucksvoll durch ca. 8 Millionen allein in Deutschland überschuldete Privathaushalte dokumentiert. Hinzu kommen mindestens 12 Millionen Menschen nebst ihrer Angehörigen, die mit weniger als 60 Prozent des bundesdeutschen Durchschnittseinkommens auskommen müssen und damit nach den bei uns geltenden Kriterien unterhalb der Armutsgrenze leben (müssen?). Vollends verwerflich wird diese Situation angesichts von 1,7 Millionen deshalb in bitterster Armut lebender und damit zugleich chancenloser Kinder.
Auf der anderen Seite ist Deutschland ja ein reiches Land mit einem geschätzten Privatvermögen von allein 8 Billionen. Davon befinden sich zwei Drittel (also ca. 5 - 6 Billionen) im Eigentum von nur 10 % der Gesamtbevölkerung. Die übrigen 72 Millionen Bundesbürger müssen sich das restliche Drittel teilen und das auch noch äußerst ungleich und damit ungerecht. Dies alles sind Kennzeichen einer absoluten ?Ellenbogengesellschaft?, die sich nur nach dem Recht des Stärkeren organisiert. Wer hat nicht schon vom Vorwurf der sozialen Kälte in unserem Land gehört.
Das bezeichne ich als neoliberalen Turbokapitalismus der all Diejenigen aussperrt, die keinen Zugang zu den aus Privateigentum und Anlagevermögen mittels Spekulation und Warentermingeschäften ?erwirtschafteten? (oder muß man nicht besser sagen ?erbeuteten?) Gewinnen haben ! ! !
Mit freundlichen Grüßen und dem aus meiner Sicht mehr als berechtigten Wunsch nach einer solidarischeren Gesellschaft.
Achim Ritter