Frage an Andrea Nahles von Heiko M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Liebe Frau Nahles,
seit einiger Zeit beschäftige ich mich intensiver mit dem Thema Politik und unserem Wahlsystem im speziellen. Ich habe über unser derzeitges System nachgedacht und frage mich, warum wir zwar Vertreter unserer Interessen wählen können, nicht aber unsere Interessen selbst vertreten können?
Warum müssen wir erst eine Partei wählen die für uns entscheidet, wenn wir doch mittlerweile technisch in der Lage sind uns selbst schnell mit Informationen zu versorgen und auch selbst abzustimmen (Internet).
Wenn ich mir die Einzelnen Wahlprogramme der Parteien anschaue, dann stimmt immer nur ein Teil meiner Interessen damit überein. Wenn ich Projekte, einzelne Gesetzesänderungen etc. direkt wählen könnte, wäre ich in meinen Entscheidungen viel freier. Außerdem hätte ich dann ein besseres Gefühl, da eine Masse von Einzelnen nicht so leicht durch Lobbyisten manipuliert werden kann. Und ich müsste nicht die Partei wählen, die mir am meisten verspricht, sondern wähle direkt das Versprechen.
Unser aktuelles System war aus meiner Sicht berechtigt, weil es früher schlicht unmöglich war Bürger direkt an einer Vielzahl von Entscheidungen zu beteiligen. Volksabstimmungen können aber doch heute unter Zuhilfenahme von modernen Kommunikationsmitteln sehr viel schneller bewerkstelligt werden.
Ich frage Sie, welche Vorteile hat unsere aktuelle repräsentative Demokratie gegenüber einer von Parteien bzw. Politikern befreiten Basisdemokatie?
Ich weiß natürlich, dass Sie sich ungerne selbst abschaffen würden, aber ich schätze Ihre Arbeit und Ihre Person, sodass ich einfach auf eine ehrlich Antwort hoffe.
Was kann ich als Einzelner unternehmen um mein Interesse, dem Wechsel der repräsentativen in eine parteien- und poltikerlosen Basisdemokratie zu vertreten? Normalerweise würde man ja eine Partei wählen, dass kann ich ja nicht, weil ich genau diese ja abschaffen möchte.
Ist ein Wechsel des System überhaupt möglich? Wenn ja, was genau kann ich tun?
Vielen Dank
Sehr geehrter Herr Mettelsiefen,
ich könnte sehr viel und ausführlich zu Ihren Fragen schreiben. Ganze Doktorarbeiten füllt das Thema Demokratie. Und es ist immer richtig, sich mit unseren demokratischen Möglichkeiten auseinanderzusetzen, sie kritisch zu hinterfragen.
Ich persönlich möchte keinen grundlegenden Systemwechsel. Ich bin überzeugt, dass unsere parlamentarische Demokratie gut ist und in diesen Zeiten sogar verteidigt aber auch verbessert werden muss. Wie wichtig ein starker demokratischer Staat ist, zeigen die grauenhaften Morde der Terrorzelle NSU und die Versuche Rechtsextremer, unsere pluralistische Gesellschaft in Frage zu stellen. Aber auch die europäische Finanzkrise stellt die Demokratie und ihre gewählten Volksvertreterinnen und -vertreter stets aufs Neue vor die Herausforderung, die Rechte einer Demokratie und ihrer Parlamente zu verteidigen und zu schützen.
Ich finde jedoch auch, dass Sie recht haben, dass Bürgerinnen und Bürger mehr direkt mit entscheiden sollten. Die SPD setzt sich deshalb seit langem für Volksentscheide auf Bundesebene ein. Plebiszitäre Elemente ergänzen den Parlamentarismus und beleben die Demokratie. Leider müssen wir derzeit hinnehmen, dass unser Koalitionspartner seine ablehnende Haltung noch immer nicht aufgeben will. Es ist Daueraufgabe für die Politik, Bürgerinnen und Bürgern mehr in politische Entscheidungsprozesse zu integrieren. Darum bedeutet für mich mehr Demokratie wagen eben auch, mehr Europa wagen.
Insofern bin ich dagegen, Parteien abzuschaffen. Die parlamentarische Demokratie ist eine Errungenschaft. Ja, sie kann und muss verbessert jedoch nicht in Frage gestellt werden. Ich finde im Übrigen auch, dass bereits heute über Parteien hinaus die Möglichkeit besteht, seine eigenen Interessen zu vertreten.
Wie gesagt, ich könnte noch viel mehr dazu schreiben...
Beste Grüße
Andrea Nahles