Frage an Annalena Baerbock bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

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Annalena Baerbock
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Andre K. •

Frage an Annalena Baerbock von Andre K. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Hallo Annalena,

zu den antisemitischen Worten vom Palästinenserpräsidenten Abbas haben sich die Grünen in der Presse klar geäußert.

Was viele wundert ist, dass man von dir noch nie in der Presse Kritik oder Konsequenzen zu den zahlreichen, über Jahrzehnte erfolgten Menschen- und Völkerrechtsbrüchen Israels, wie z. B. die illegale Siedlungspolitik, wahrnehmbar vernommen hat.

Die Grünen sind für Sanktionen gegen Russland, Nordkorea und Iran wegen Brüchen internationalen Rechts, aber Boykotte wegen der zahlreichen Menschen- und Völkerrechtsbrüchen Israels lehnen die Grünen entschieden ab, und das, obwohl diese Boykotte inzwischen auch von vielen Juden/Israelis unterstützt werden (https://www.tagesspiegel.de/politik/staatsgruendung-vor-70-jahren-bundestag-bei-israel-resolution-nicht-auf-einem-nenner/21207870.html, https://www.tagesspiegel.de/kultur/proteste-im-gazastreifen-natalie-portman-sagt-israel-reise-aus-politischen-gruenden-ab/21196538.html).

Meine Frage an dich lautet:

Warum lehnen die Grünen gewaltfreie, unbewaffnete und friedliche Boykotte im Stile Gandhis gegen die andauernden Völkerrechts- und Menschenrechtsbrüchen Israels vehement ab, anstatt sie zu unterstützen?

Vielen Dank,
A. K.

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Lieber A. K.,

vielen Dank für die Anfrage. Wir sind uns bewusst, dass aufgrund der festgefahrenen Situation im israelisch-palästinensischen Konflikt die palästinensische Zivilgesellschaft zunehmend damit begonnen hat, alternative Strategien zur Beendigung der Besatzung zu entwickeln und einzuleiten. Während die Palästinensische Autonomiebehörde den Weg der Internationalisierung des Konflikts über die Vereinten Nationen wählte, unterstützt ein relevanter Teil der palästinensischen Zivilgesellschaft eine Strategie, die darauf setzt, Druck auf Israel auszuüben. Palästinensisch-israelische Projekte, die nicht auf ein Ende der Besatzung zielen, werden als „Normalisierung“ abgelehnt. Auch die Bewegung für internationalen Boykott, Divestment (Kapitalabzug) und Sanktionen (BDS) gewinnt international an Zulauf.

Während wir der palästinensischen Zivilgesellschaft nicht absprechen, selbst über gewaltfreie Strategien zur Beendigung der Besatzung zu entscheiden, lehnen wir einen Boykott Israels als Instrument deutscher und europäischer Politik ab. Wir wollen weiterhin mit allen Kräften in Israel zusammenarbeiten, die sich gegen eine Fortdauer der Besatzung und für eine Zwei-Staaten-Reglung einsetzen. Außerdem halten wir es für politisch falsch und schädlich, dass die BDS-Bewegung bewusst die Frage danach offen hält, wie der israelisch-palästinensische Konflikt geregelt werden soll. Damit setzt sie sich dem Verdacht aus, den Fortbestand des Staates Israel nicht zu wollen und trägt ihrerseits gewollt oder ungewollt dazu bei, die Zwei-Staaten-Perspektive zu untergraben.

Für uns ist es eine unabdingbare Selbstverpflichtung deutscher Politik, für das Existenzrecht und die Sicherheit Israels einzutreten. Zugleich haben auch die Palästinenser*innen ein Recht auf Sicherheit und auf einen unabhängigen, souveränen, lebensfähigen und demokratischen Staat. Beides steht einander nicht entgegen, sondern bedingt einander. Tatsächlich entsteht vor Ort durch die Dauerhaftigkeit und Vertiefung der israelischen Besatzung seit 1967 und den schleichenden Zerfall der einst als Grundstein des palästinensischen Staates vorgesehenen palästinensischen Autonomiebehörde eine Art Einstaatenrealität, in der dauerhaft den unter Besatzung und Militärrecht stehenden Palästinenser*innen viele ihrer Rechte verwehrt bleiben.

Angesichts des Scheiterns aller bisherigen Verhandlungsbemühungen und der innenpolitischen Entwicklungen auf beiden Seiten ist ein Überdenken der bisherigen Politik, die eine Umsetzung der Zwei-Staaten-Perspektive bislang nicht erreichen konnte, dringend notwendig. Den schwindenden Chancen für die Verwirklichung einer Zwei-Staaten-Regelung muss dringend aktiv etwas entgegengesetzt werden. Dabei geht es um positive und negative Anreize.

Es reicht nicht aus, die israelische Siedlungspolitik nur verbal zu verurteilen. Die EU und die
Bundesregierung müssen gegenüber der israelischen Regierung deutlich machen, dass sie eine Fortsetzung der völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik sowie eine Politik der fortschreitenden, faktischen Annexion der Westbank und anhaltenden Kontrolle über Ost-Jerusalem sowie der dauerhaften Verweigerung der Menschen- und Bürgerrechte der palästinensischen Bevölkerung weder direkt noch indirekt zu unterstützen bereit sind. Wenn sie zu Recht die bedingungslose Unterstützung für das Existenzrecht Israels hervorheben, muss klar sein, dass diese sich nur auf den Staat Israel in den Grenzen von 1967 bezieht.

Die Bevölkerung des Gaza-Streifens muss die Möglichkeit für eine friedliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung bekommen. Die knapp zwei Millionen Menschen leiden seit Jahren unter der Blockade durch Israel und Ägypten, immer neuen Kriegen und der autoritären Herrschaft der Hamas. Die weitgehende Blockade des Gazastreifens muss - unter Wahrung der legitimen Sicherheitsinteressen Israels wie Ägyptens - aufgehoben werden. Hier haben beide Nachbarstaaten, Israel wie Ägypten, eine Verantwortung.

Die EU und die Bundesregierung müssen sowohl bei konstruktiven Schritten in Richtung Frieden weitreichende Unterstützung in Aussicht stellen als auch auf völkerrechtswidrige Politik auf beiden Seiten und für den Friedensprozess kontraproduktive Schritte negative Konsequenzen folgen lassen. Die Kombination des breiten Unterstützungspakets, das die EU im Dezember 2013 den Konfliktparteien im Fall einer Friedensregelung angeboten hat, mit den Richtlinien zum Ausschluss der Siedlungen von EU-Fördermitteln und der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 25. Februar 2010, dass die in den völkerrechtswidrigen Siedlungen produzierten Waren keinen Anspruch auf EU-Zollvergünstigungen haben waren ein erster Schritt in diese Richtung. Hierbei darf die EU jedoch nicht mehr mit doppelten Standards auftreten. Während sie binnen kürzester Zeit Sanktionen gegen Produkte aus der Krim beschlossen hat, profitiert sie seit langem von der Besatzung der West-Sahara. Für den Handel mit allen Gebieten, die von anderen Ländern völkerrechtswidrig besetzt sind, müssen dieselben Prinzipien gelten.

Mit herzlichen Grüßen
Annalena Baerbock

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