Frage an Annette Widmann-Mauz bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Annette Widmann-Mauz
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Frage von Stefan S. •

Frage an Annette Widmann-Mauz von Stefan S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Guten Tag Frau Widmann-Mauz,

Der Innenausschuss des Bundestages hat am 11. Februar die Initiativen von FDP, GRÜNE und LINKE zur Einführung direkter Demokratie auf Bundesebene (also von bundesweiten Volksinitiativen und Volksentscheide) mit den Stimmen der großen Koalition abgelehnt!

Am 7. Juni 2002 hat erstmals eine einfache Mehrheit des Bundestages für die Einführung der Volksabstimmung gestimmt. Hauptsächlich CDU-Abgeordnete haben verhindert, daß eine 3/4 Mehrheit für eine dafür als notwendig erachteteGrundgesetzänderung erreicht werden konnte.

70-80% der Bürger sprechen sich für die Möglichkeit von bundesweiten Volksentscheiden aus.

Wie stehen Sie als Bundestagsabgeordnete zur Einführung von bundesweiten Volksentscheiden? Setzten Sie sich innerhalb der CDU dafür ein?

Mit freundlichen Grüssen

Stefan Schade

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Antwort von
CDU

Sehr geehrter Herr Schade,

vielen Dank für Ihre Anfrage zum Thema Einführung von Volksentscheiden. Sehr gerne nehme ich zu diesem Sachverhalt Stellung.

Grundsätzlich halte ich es für einen Irrtum, zu glauben, bei Volksabstimmungen hätte der Einzelne mehr Einfluss. Tatsächlich würde die Bedeutung von Verbänden und Interessengruppen, die große Kampagnen organisieren können, wachsen. Engagierte Minderheiten erhielten großen Einfluss auf die Staatsgeschicke - ohne dafür dauerhaft in der Verantwortung zu stehen.

Ein Plebiszit bedeutet, auch hoch komplizierte Sachverhalte auf ein JA oder Nein reduzieren zu müssen. Demgegenüber ist die Entscheidungsfindung im politisch-parlamentarischen Prozess auf möglichst gerechten Interessenausgleich, auf Suche nach richtigen Kompromissen ausgerichtet. Plebiszite kennen keine Ausschussberatungen, Sachverständigenanhörungen und keine Beteiligung der Länder. Im Gegenteil. Wenn im Bund plebiszitär entschieden wird, endet der Föderalismus. Gegen das Verfassungsgebot, dass die Länder an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken, würde offensichtlich verstoßen.

Volksentscheide führen auch nicht, wie oftmals vermutet, zu einem stärkeren politischen Interesse oder Engagement der Bevölkerung. Nehmen Sie die Nationalwahlen in der Schweiz 2007 als Beispiel. Die Wahlbeteiligung lag bei 48.3%. Bei der Bundestagswahl 2005 lag die Beteiligung immerhin bei 77,7%. Im Übrigen weiß ich nicht auf welcher Grundlage Ihre Angaben über die Befürwortung von Volksentscheiden durch die Bürgerinnen und Bürger beruhen.

"Berlin ist nicht Weimar". Dennoch sprechen auch heute noch gravierende Gründe gegen eine Aufnahme plebiszitärer Elemente (Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid) in das GG.

1. Die Komplexität einer Gesetzgebungsmaterie und ihre Vernetzung mit anderen Regelungsbereichen lassen in einer modernen pluralistischen Demokratie eine Ja/ Nein-Alternative nicht zu. Das parlamentarische Verfahren mit seinen drei Lesungen und den Ausschussberatungen ist dafür am besten geeignet.

2. Demagogie und Populismus wären bei einem Plebiszit Tür und Tor geöffnet. Sachfremde Erwägungen würden in den Entscheidungsprozess einfließen oder gar den Ton angeben. Es geht dann nicht um das Gesetzgebungsvorhaben als solches, sondern darum, die Regierung oder die Opposition allgemeinpolitisch "abzuwatschen". Plebiszite wären auch sehr stark momentanen Stimmungen unterworfen.

3. Der Minderheitenschutz wäre gefährdet, da weder die Gruppen, die für die "richtige" Entscheidung werben, noch die Stimmbürger dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Plebiszite geben darüber hinaus aktiven Minderheiten und gut organisierten Vertretern partikularer Interessen das Instrumentarium, ihre Macht noch stärker als bisher auf Bundesebene durchzusetzen. Infolgedessen besteht die Gefahr der Bevormundung des Bürgers durch demokratisch nicht legitimierte Vereinigungen.

4. Plebiszite zögen unweigerlich die Schwächung föderaler Strukturen nach sich. Darin änderte sich auch nichts durch die Einführung eines Länderquorums.

5. Es ist illusionär zu erwarten, dass die Einführung plebiszitärer Verfahren die sog. "Parteienverdrossenheit" überwinden könnte. Wenn Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid mit in das GG aufgenommen würden, so würden sich - legitimerweise - auch die politischen Parteien dieser Verfahren bedienen. Wenn die politischen Parteien aber die freie Entscheidung darüber hätten, ob sie ein bestimmtes Anliegen auf plebiszitärem oder parlamentarischem Wege verfolgen wollten, drohte erneut die Flucht aus der parlamentarischen Verantwortung. Zudem trügen plebiszitäre Verfahren zu einer schleichenden Abwertung des Parlaments bei.

In der Hoffnung, Ihnen meine Position zum Thema bundesweite Volksabstimmung verdeutlicht zu haben, verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

gez. Annette Widmann-Mauz MdB

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