Frage an Christian Lindner von Marvin S. bezüglich Gesundheit
Sehr geehrter Herr Lindner,
ich kann leider absolut nicht verstehen das die Maßnahmen gegen Covid-19 jetzt schon gelockert wurden. Ich frage mich wie man nach der Reproduktionszahl des Virus gehen kann? Sollte man sich nicht die täglichen Neuansteckungen anschauen? Diese liegt seit ein paar Tagen bei ca. 2000 Menschen am Tag. Wenn nun Lockerungen vorgenommen werden, besteht doch eine riesen Gefahr für eine zweite große Infektionswelle. Ist es nicht möglich drastische Maßnahmen durchzuführen, damit wir den Virus schneller besiegen?
Wie stehen Sie zu einem konsequenten zweiwöchigen Lockdown?
Mit freundlichen Grüßen
M. Schichel
Sehr geehrter Herr S.,
vielen Dank für Ihre Nachricht. Ihre Sorgen kann ich gut nachvollziehen.
Angesichts des niedrigen Forschungsstandes, der unkontrollierten Infektionsketten und des eklatanten Mangels an Schutzausrüstung waren die einschneidenden Maßnahmen zu Beginn der Pandemie unumgänglich. Jede Alternative wäre unverantwortlich gewesen. Entsprechend unserer staatspolitischen Verantwortung haben wir die beschlossenen Maßnahmen deshalb im Bundestag mitgetragen und in mehreren Landesregierungen ausgestaltet und implementiert. Doch bereits damals haben wir sehr deutlich gemacht: Solche erheblichen Einschränkungen unserer Grund- und Freiheitsrechte müssen tagtäglich hinterfragt und neu bewertet werden.
Von den Wissenschaftlern haben wir im Verlauf der Krise unterschiedlichste Einschätzungen gesehen, basierend auf ihrer jeweiligen fachlichen Expertise. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse sind extrem wichtig für uns. Aber zur Wahrheit gehört doch auch: Die Experten widersprechen sich bisweilen und wir haben auch schon manchen U-Turn in ihren Einschätzungen gesehen. Das sollte uns die Demut lehren, dass es letzte Wahrheiten nicht gibt. Wir müssen vielmehr bereit sein, auf neue Erkenntnisse zu reagieren. Neue Studien, wie die von Heinsberg, begrüße ich daher sehr.
Doch ich warne auch davor, das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Nicht nur das Corona-Virus, sondern auch die restriktiven Maßnahmen zu seiner Eindämmung können sich auf gefährliche Weise auf unsere Gesellschaft auswirken. Zahlreiche Studien zeigen: Soziale Isolation, außergewöhnliche Stressbelastungen und Bewegungsmangel können schwerwiegende Folgen auf die Gesundheit sowie auf die Lebenserwartung von Menschen haben. Und ab einem gewissen Zeitpunkt kann eben auch der ökonomische Schaden irreparabel sein. Dies abzuwägen, liegt ebenfalls in der Verantwortung der Politik.
Wir müssen deswegen intelligente Lösungen finden, wie wir das größtmögliche vertretbare Maß an Freiheit mit einem angemessenen Gesundheitsschutz verbinden, um neben den gesundheitlichen auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abmildern zu können. Der grundsätzliche Ansatz muss daher viel flexibler werden, mit einem größeren Augenmerk auf regionale Infektionsunterschiede. Nicht jede Einschränkung muss pauschal für das ganze Land gelten. Es wären bereits jetzt mehr Lockerungen möglich. Freiheit und Gesundheit dürfen nicht weiter gegeneinander ausgespielt werden. Wenn es in bestimmten Regionen wieder zu einem stärkeren Infektionsgeschehen kommt, dürfen wir nicht vor einer lokalen Rücknahme der Lockerung zurückschrecken - oder gar einem noch restriktiveren Shutdown. Das sage ich auch im Hinblick auf eine zweite Infektionswelle. Umso mehr gilt: Wir werden aufmerksam bleiben und unsere Kapazitäten kontinuierlich aufbauen müssen. Und wir warten leider immer noch auf eine vertrauenswürdige, datenschutzrechtlich unbedenkliche und freiwillige Smartphone-App zur Identifikation von Infektionsketten. Es hätten zudem längst Blaupausen für Schutzkonzepte in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens vorliegen können, hätte sich die Bundesregierung einer Diskussion über Öffnungsstrategien nicht bis vor wenigen Tagen verweigert. Diese Haltung habe ich auch in meiner Erwiderung auf die jüngste Regierungserklärung der Bundeskanzlerin vertreten: https://dbtg.tv/fvid/7441882.
Ihnen persönlich wünsche ich alles Gute - bleiben Sie vor allem gesund!
Freundliche Grüße
Christian Lindner