Frage an Gerda Hasselfeldt von Lothar G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Hasselfeldt,
im Sommer 1983, als die Gefahr sehr groß war, dass aus dem Kalten Krieg ein heißer wird, flog Franz Josef Strauß zu Honecker in die DDR und bot ihm eine Milliardenbürgschaft der Bundesregierung an. Diese Aktion von Strauß hat viel Unruhe und Empörung auch im Lager der CDU/CSU ausgelöst. Sie waren damals bayerische Politikerin, Sie werden sich erinnern. Ungefähr ein halbes Jahr später, Februar 1984, gab es plötzlich einen enormen Ansturm von DDR-Übersiedlern auf die bundesdeutschen Notaufnahmelager. Das waren Menschen, die oft viele Jahre vorher von der DDR die Entlassung aus deren Staatsbürgerschaft gefordert haben und die seither von den Machthabern schikaniert und inhaftiert wurden. Insgesamt kamen im Jahr 1984 40.000 Übersiedler, in den Medien wurde das „Die Welle“ genannt. Im Sommer 1984 wurde dann ein zweiter Milliardenkredit mit der DDR vereinbart. Diese Vorgänge liegen inzwischen 30 Jahre zurück. Wäre es nicht an der Zeit, dass von Politikern und Historikern der Zusammenhang zwischen den drei Ereignissen gesucht wird, würde das nicht auch die Sicht auf das Wirken des Politikers Strauß deutlicher und gerechter machen? Viele der damaligen Übersiedler haben ihre neue Heimat in Bayern gefunden. Überwiegend waren sie gut ausgebildet und unter 40 Jahre alt, die meisten von ihnen sind heute Rentner. Die sind Zeitzeugen für die Vorgänge von damals, die mit der Integration in die Bundesrepublik ihre Fortsetzung fanden. Sie sind Landesgruppenvorsitzende der CSU, es würde unserem Zeit- und Geschichtsverständnis guttun, wenn Sie sich dafür einsetzten, dass der Prozess um die „Welle“ untersucht und veröffentlicht wird. Inzwischen gibt es eine Reihe Veröffentlichungen, die sich mit dem Freikauf von etwa 33.000 Häftlingen aus DDR-Gefängnissen befassen. Der Einsatz von Strauß für die Freiheit der Menschen, die in der DDR schikaniert und inhaftiert wurden, sollte heute auch kein Tabu mehr sein.
Mit freundlichen Grüßen
L. Gebauer
Sehr geehrter Herr Gebauer,
haben Sie vielen Dank für Ihre Email, in der Sie die Leistungen des bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Parteivorsitzenden Franz Josef Strauß im Zusammenhang mit der Durchsetzung menschlicher Erleichterungen im Gegenzug für die an die DDR vergebenen Milliardenkredite (1983/84) hervorheben.
In der Tat dürfte Franz Josef Strauß durch sein für die damalige Zeit unkonventionelles Handeln einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Verbesserung der Lebenssituation vieler DDR-Bürger und damit auch an der Erosion des DDR-Regimes gehabt haben, wie bereits Dr. Stefan Finger (Universität Bonn) in seiner im Jahre 2005 erschienenen Strauß-Biografie hervorgehoben hat. So besserte sich das vormals mitunter schikanöse Verhalten der DDR-Grenzbeamten an der innerdeutschen Grenze, Ausreisen von DDR-Bürgern und Familienzusammenführungen wurden erleichtert, die menschenverachtenden Selbstschussanlagen am Grenzstreifen wurden abgebaut. Der Einsatz von Franz Josef Strauß, über den auch zahlreiche Medien berichtet haben und der somit gewiss kein Tabu ist, brachte vielen Menschen die Freiheit.
Wie Sie zutreffend schreiben, ist das Wirken von Franz Josef Strauß bei der „Welle“ und die Folgen, anders als beispielsweise Strauß’ Rolle beim Aufbau der Luft- und Raumfahrtindustrie in Bayern und beim Aufbau der Bundeswehr, noch nicht umfassend wissenschaftlich aufgearbeitet. Auf der von der Hanns-Seidel-Stiftung betriebenen Internetseite http://www.fjs.de/fjs-in-wort-und-bild/literaturtipps.html findet sich eine Literaturauswahl. Besonders hervorzuheben ist dabei die bereits erwähnte Biographie von Dr. Finger, in der auch das von Ihnen angesprochene Thema behandelt wird.
Die Forschungslücke ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Aktensperrfrist gemäß geltendem Bundesarchivgesetz in der Regel 30 Jahren beträgt und die Jahre 1983/84 noch darunter fallen. Für Privatnachlässe gelten in der Regel gesonderte Nutzungsbedingungen. Sobald die entsprechenden Akten zugänglich sind, wird sich auf diesem Feld sicherlich einiges tun und die Rolle von Franz Josef Strauß stärker beleuchtet werden können.
Mit freundlichen Grüßen
Gerda Hasselfeldt, MdB