Frage an Gregor Gysi bezüglich Bundestag

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Gregor Gysi
DIE LINKE
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Frage von Susanne R. •

Frage an Gregor Gysi von Susanne R. bezüglich Bundestag

Lieber Gregor Gysi,
werden die Fraktion wechseln und der neuen Partei Widerstand2020 beitreten?
Sie ist jetzt schon größer als die AfD. Bitte berücksichtigen Sie bei Ihrer Entscheidung den heutigen Aufruf des Gründungsmitglieds von Widerstand2020 Bodo Schiffmann, der sich an Politiker in Landtagen und im Bundestag richtet. Es ist sehr, dringend.
siehe https://51grad.org/drschiffmann
Durch Ihr duldsames Schweigen zu den massiven Grundrechtseinschränkungen während des Corona Chaos ist die Linke für mich nicht mehr wählbar. Ich bin jetzt Parteimitglied bei Widerstand2020, weil ich dringenden Handlungsbedarf sehe, um unsere Demokratie zu retten. Ich würden mich sehr freuen, wenn auch Sie sich unserer neuen Partei anschließen.
freundliche Grüße,. S. R.

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Antwort von
DIE LINKE

Liebe Frau Reinke,

Ihre Nachricht vom 30. April hat mich erreicht.

Seien Sie gewiss, dass die Fragen, wie die Politik und die Gesellschaft mit der Bedrohung durch das Corona-Virus richtig umgehen sollen, die meisten Politiker in unserem Land umtreiben.

Selbstverständlich werden die im Zusammenhang mit der Verbreitung des Corona-Virus erhobenen statistischen Daten permanent überprüft und erweitert, um zu einer immer aussagekräftigeren Basis und dementsprechend zuverlässigeren Schlussfolgerungen zu kommen und beschlossene oder geplante Maßnahmen evaluieren zu können. Es kann sich dabei herausstellen, dass Positionen von Wissenschaftlern, die das Corona-Risiko niedriger einstufen, am Ende näher an der Realität liegen, als jene von Wissenschaftlern, die das Gefährdungspotential höher bewerten, auch wenn dies die Entwicklungen wie in den USA, Spanien, Italien, Frankreich, Großbritannien, Russland oder Brasilien momentan nicht nahelegen. Inzwischen zeigt sich in nahezu allen Ländern, die aus verschiedenen Gründen zu spät oder unentschlossen reagiert haben, eine deutliche Übersterblichkeit, wie man es an den Statistiken von https://www.euromomo.eu/graphs-and-maps erkennen kann. Deutschland ist davon ausgenommen, weil die Bevölkerung rechtzeitig und mit großer Solidarität die notwendigen Maßnahmen umgesetzt hat. Diese Übersterblichkeit und die medizinischen Erfahrungen mit Folgeschäden, Verlaufsformen und Konsequenzen für die Situation in Krankenhäusern insbesondere in besonders betroffenen Regionen zeigen auch, dass das Corona-Virus nicht mit einer Grippewelle gleichzusetzen ist. Dass unter den Verstorbenen vor allem ältere Menschen mit Vorerkrankungen sind, sollte uns schon unter ethischen Aspekten nicht dazu bringen, dies einfach hinzunehmen. Die meisten dieser Menschen könnten ohne das Corona-Virus noch so leben, wie sie es vor der Infektionswelle getan haben. Es steht uns nicht zu zu entscheiden, welches Leben es wert ist, weiter gelebt zu werden und welches vermeintlich nicht.

Die Politik muss vor diesem Hintergrund bei ihren Entscheidungen angesichts der Neuartigkeit des Virus, der nicht vorhandenen Grundimmunisierung der Bevölkerung, nicht vorhandener Therapiemöglichkeiten letztlich eine Risikoabwägung treffen, wie valide Daten sein müssen und bis zu welchem Grad man auf den Ausgang einer wissenschaftlichen Diskussion warten kann, oder ob man schon zuvor Vorkehrungen zu treffen hat, um das Risiko für die Bevölkerung zu minimieren. Dass die damit verbundenen Entscheidungen selbstverständlich gerade auch in Bezug auf ihre grundrechtlichen Auswirkungen diskutiert und ggf. auch kritisiert werden müssen, versteht sich von selbst und wird ja auch von der demokratischen Opposition praktiziert. Sie können dies an den Veränderungen erkennen, die zum Beispiel der Berliner Senat an den entsprechenden Verordnungen gegenüber den ursprünglichen Entwürfen vorgenommen hat, indem zum Beispiel die Ausweispflicht oder das Untersagen eines Aufenthalts auf Bänken zurückgenommen worden sind. Zugleich wird Die Linke darauf drängen, dass die Marktausrichtung bei Pflege und Gesundheit zurückgenommen, große Konzerne und Banken, Superreiche und Vermögende zur Finanzierung der Kosten der Corona-Krise herangezogen werden, europäische und internationale Solidarität einfordern und die Auswirkungen der neoliberalen finanzmarktgetriebenen Globalisierung auf all diese Prozesse überprüfen.

Die Regierung kritisiere ich deutlich dafür, dass sie ein von ihr veranlasstes Expertengutachten aus dem Jahr 2012 zur Anschaffung von Masken und Schutzanzügen unberücksichtigt ließ und weiterhin Kliniken privatisierte und schloss.

Aktuelle Befürchtungen in Bezug auf die Einführung eines indirekten gesetzlichen Impfzwangs durch die Schaffung eines so genannten Immunitätsausweises beruhen auf einer so genannten Formulierungshilfe aus dem Gesundheitsministerium für einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. Diesen Versuchen tritt Die Linke entschieden entgegen. Auch wenn ich persönlich eine Impfung mit einem selbstverständlich nach allen wissenschaftlichen Standards geprüften Impfstoff für sinnvoll halte, geht ein Immunitätsausweis, der Menschen , die ihn nicht besitzen, von bestimmten Teilen des gesellschaftlichen Lebens ausschlösse, in die völlig falsche Richtung. Da es auch in der SPD als einem Teil der Koalition dazu Widerspruch gibt, ist noch völlig offen, ob dieses Vorhaben überhaupt in den Gesetzestext kommt. Wenn doch, ist dieses Gesetz nicht zustimmungsfähig. Minister Spahn hat seinen Vorstoß inzwischen zurückgezogen, so dass ich davon ausgehe, dass er nicht Gesetzeskraft erlangt.

Gerade weil die Einschränkungen so massiv sind – auch wenn sie in anderen Ländern noch deutlich restriktiver gehandhabt werden – muss die Politik darauf achten, dass ihre Entscheidungen transparent sind und auch einen Weg eröffnen, wie man sie Schritt für Schritt wieder zurückfahren kann. Hier ist die Bundesregierung noch zu wenig bereit, notwendige Diskussionen zu führen und demokratische Prozesse zu begleiten. Klar erscheint, dass dieser Weg zurück in die Normalität zu beginnen ist, wenn die Verbreitung des Virus auf ein Maß reduziert ist, womit die vorhandenen Kapazitäten des Gesundheitssystems klar kommen, zugleich ein genügend großer Umfang an Testkapazitäten und Schutzausrüstung insbesondere für das medizinische und Pflegepersonal aufgebaut wurden und auch die entsprechenden Daten über den bereits erreichten Grad an Immunisierung vorliegen. Praktisch alle Staaten haben dies früher oder später durch einen so genannten Shutdown oder wie in einigen asiatischen Ländern durch eine Strategie der massiven Kontrolle von Infizierten und Kontaktpersonen, die datenschutzrechtlich in Deutschland nicht möglich wäre, begonnen. Gerade weil dies mit massiven wirtschaftlichen Verlusten verbunden ist, wird dies nirgendwo länger als nötig beibehalten. Aber ohne scheint es offenbar nicht zu gehen. Wir werden als Linke strikt darauf achten, dass die Kosten der Krise nicht sozial ungerecht auf die sozial Benachteiligten und die Mitte der Gesellschaft verteilt werden und dass grundlegende Weichenstellungen in unserer Gesellschaft künftig so vorgenommen werden, dass sie besser, sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger für derartige Herausforderungen gewappnet ist. Die Linke wird vor allem darauf achten, dass alle Beschränkungen vollständig wieder zurückgenommen werden.

Was die von Ihnen angesprochene Partei oder richtiger Bewegung „Widerstand 2020“ betrifft, so kann ich Ihnen nur raten, genau zu prüfen, in welchen Zusammenhängen Sie sich bewegen. Die im Internet angegebene Geschäftsadresse entspricht exakt der Geschäftsadresse der AfD Niedersachsen. Wie ich schon sagte, ist Kritik am Regierungshandeln vollkommen legitim. Zugleich habe ich Ihnen zu schildern versucht, unter welchen Bedingungen Politik Entscheidungen treffen muss. Meine Partei nimmt ihre Verantwortung in der Opposition im Bundestag und in den Landesregierungen von Thüringen, Bremen und Berlin im Interesse der Bürgerinnen und Bürger wahr. Dabei werde ich sie weiterhin unterstützen.

Mit freundlichen Grüßen

Gregor Gysi

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