Frage an Katja Kipping bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Katja Kipping
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Frage von Uwe R. •

Frage an Katja Kipping von Uwe R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Kipping,

Ihr Kollege aus der Parteiführung Riexinger war am 9. Oktober 2012 in Athen bei der Kundgebung gegen die Sparbeschlüsse wegen der Euro-Schulden-Krise.
Ich war entsetzt als ich im Fernsehen Bilder davon sah, dass Demonstranten Deutschland- und EU- Fahnen verbrannten (ob bei der Kundgebung oder bei Demonstrationen drum herum?).
Solche Bilder kennt man sonst nur aus dem Iran wo regelmäßig USA- und Israel- Flaggen auf Regierungsbefehl verbrannt werden sowie aus anderen Ländern, die von hochgradig zweifelhaften Menschen regiert werden.
Schlimmer aber noch ist die Tatsache, dass Frau Merkel mit Nazis in Verbindung gebracht wird: Das Gesicht von Frau Merkel wurde in Fotomontagen mit dem berüchtigten Bart von A.H. verunstaltet und auf anderen Fotomontagen trug Frau Merkel eine Hakenkreuz-Binde am Arm (Bilder aus der selben Berichterstattung auf verschiedenen Sendern).
Man muss die Arbeit und die Art von Frau Merkel nicht mögen, aber Frau Merkel ist keine Faschistin.
Es galt früher einmal die Regel, dass wir den Nationalsozialismus nie verharmlosen wollen.
Genau das wurde aber mit diesen Fotomontagen gemacht. Wenn Frau Merkel schon eine Nazi ist, dann gibt es in Europa offenbar keine wirklichen Nazis mehr.
Wie kann es dann also sein, dass Herr Riexinger in seiner Rede, die er - anders als geplant - in Athen doch nicht halten konnte (siehe Homepage Ihrer Partei), mit keinem Wort auf diese Ungeheuerlichkeit eingeht? Und auch sonst wird diese Verharmlosung des deutschen Nationalsozialismus und die Beleidigung der Regierung Merkel nicht aus Ihrer Fraktion zurückgewiesen.
Ich halte das für falsch. Wie stehen Sie dazu?

Vielen Dank im Voraus für die Beantwortung meiner Fragen.
Mit freundlichen Grüßen
Uwe Reinecke.

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Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Reinecke,

gerne beantworte ich Ihre Frage.
Die Nazi-Vergleiche der griechischen Protestierenden halten wir für völlig deplatziert. Ich bin da mit ihnen weitgehend einig. Aber das Bernd Riexinger sich zu diesen Vergleichen nicht eindeutig geäußert hat, stimmt nicht. Beispielhaft möchte ich auf ein Interview mit Phoenix verweisen, in dem er dies als „Entgleisung“ zurück gewiesen hat.

Link: www.youtube.com/watch?v=tk5NvUb1HdE (Minute: ca. 2:40)

Ohne die von Ihnen zu Recht kritisierte Form der Proteste zu beschönigen oder zu rechtfertigen, möchte ich aber darauf verweisen, dass diese Randerscheinungen bei den Demonstrationen waren. Vielmehr sehe ich das große Problem, dass die sozialen Verwerfungen in Griechenland zum Erstarken einer faschistischen Partei führt, der in Umfragen teilweise schon bis zu 20 % vorher gesagt werden. Meine Sorge ist, dass die von der Troika durchgesetzte Politik in Griechenland, die Demokratie dort gefährdet. Auch deshalb brauchen wir eine Politik, die Griechenland wirklich hilft – aber dazu muss die griechische Politik auch bereit sein, an das Vermögen ihrer Millionäre und Milliardäre abzuschöpfen. Warum so frage ich mich, wird Griechenland eine Politik auferlegt, die sie zwingt, im Gesundheitswesen oder bei den Löhnen und Gehältern zu sparen, nicht aber die Vermögen der Millionäre zu besteuern?
Bitte erlauben Sie mir noch einen Hinweis zur Kritik der Reise aus der Regierungskoalition: Für Schwarz-Gelb ist gilt wohl der Satz „Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.“ Die konservative WELT wies am 10.10.2012 auf folgenden Fall hin: „Man muss schon fast zehn Jahre zurückgehen, um vergleichbare Volten eines deutschen Oppositionspolitikers gegen die eigene Regierung im Ausland zu finden. Dabei stößt man auf eine deutsche Oppositionsführerin, der es damals ebenso um ein Zeichen der Solidarität gegen die eigene Regierung ging, ebenfalls aus dem Ausland lanciert und in nicht minder bedeutender Angelegenheit. Die Oppositionsführerin hieß Angela Merkel, und der Streit ging damals, im Jahre 2003, um Bundeskanzler Schröders Absage an US-Präsident Bush jr. in Sachen Irakkrieg.“ (http://www.welt.de/politik/deutschland/article109712751/Linken-Chef-duepiert-Merkel-mit-Auftritt-bei-Protesten.html)

Nicht nur deshalb halt ich die vorgetragene Kritik an Bernd Riexingers Reise nach Griechenland und seiner Teilnahme an den Protest für heuchlerisch. Der Konflikt, den wir gegenwärtig in Europa austragen, ist keiner zwischen den verschiedenen Nationen in Europa, es ist einer zwischen dem maßlosen Agieren der Finanzmärkte und den Superreichen einerseits und der normalen Bevölkerung andererseits. (Hierzu übrigens ein interessanter Kommentar in der ZEIT zur Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Debatte der europäischen Krise: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-10/Riexinger-Athen-Kritik-Kommentar). Das ist übrigens auch der Grund, warum Bundeskanzlerin Merkel bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich, Sarkozy unterstütze und sich weigerte, dessen Gegenkandidaten Hollande zu empfangen, wie es üblicherweise eine diplomatische Gepflogenheit ist. Ähnlich agierten auch der britische Premierminister und der italienische Ministerpräsident. Merkel und andere konservative Regierungschefs agierten hier ausschließlich als konservative ParteipolitikerInnen.

Bernd Riexinger berichtete mir übrigens von einem Besuch in einem Kinder-Krankenhaus in Athen. Dort seien 800 Menschen entlassen worden und es fehle sogar an Verbandsmaterial. Können Sie sich das im Jahr 2012 in der Europäischen Union vorstellen? Vor dem Hintergrund dieser dramatischen Lage in Griechenland möchte ich darum werben, die Proteste dort grundsätzlich mit Solidarität zu betrachten – auch wenn man nicht immer alle Ausdrucksformen angemessen findet.

Mit den besten Grüßen
Ihre Katja Kipping