Frage an Katja Kipping bezüglich Soziale Sicherung

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Katja Kipping
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Frage von Jan E. •

Frage an Katja Kipping von Jan E. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrte Frau Kipping,

mir wird es auf ewig ein Rätsel bleiben, warum intellektuelle Linke von einem utopischen Menschenbild ausgehen, welches es, bei realistischer Betrachtung, nicht gibt.
Als ich Ihre Thesen zum bedingungslosen Grundeinkommen durchgelesen habe, stellte sich mir die Frage, ob Sie selbst ernsthaft an die Erreichung eines solchen Ziels glauben. Sorry, aber für mich sind dies nur verquerte Gedankenspiele, die man nicht wirklich ernst nehmen kann.
Im Grunde genommen beschreiben Sie doch das Leitbild des Kommunsimus: Wenn es allen gut geht, engagieren sich die Menschen auch wieder für die Gesellschaft, weil es Ihnen ein Bedürfnis ist. Sehr schön, gefällt mir, würde ich sofort mitmachen. Die Realität ist jedoch eine andere. Und zwar eine ökonomische (Schade das Sie dies nicht studiert haben, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung wäre hilfreich).
Angenommen Ihre Grundsicherung kommt ab 2009. Meine Familie erhält 950 + 950 + 465 + 465 = 2830. Super. Fast soviel wie jetzt, wo ich und meine Frau Vollzeit arbeiten. Was machen wir? Klar, wir arbeiten nur noch halbtags und machen den Rest das, was wir wollen. Wir haben mehr Geld und mehr Freizeit. Herrlich! Das würden bestimmt viele gerne auch machen. Also arbeitet die Hälfte der Republik nur noch halbtags. Zusätzlich kommen natürlich die bisher nicht arbeitenden Hartz IV Empfänger, denen Arbeit jetzt natürlich ein Bedürfnis geworden ist. Resultat Ende 2009. Das BIP sinkt. Konsum und Hartz IV-Arbeitskräfte fangen den Rückgang der vorlskwirtschaftlichen Produktivität nie auf. Und vielleicht können Sie sich denken, was dann passiert. Das zu verteilende Budget sinkt ebenfalls. Das heißt, 2010 ist weniger zu verteilen. Und nun????? Ich bitte um Antwort. Vielen Dank im Voraus!

Mit freundlichen Grüßen
Jan Erdtel

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DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Erdtel,

was Sie als "Leitbild des Kommunismus" bezeichnen, das ist das Leit- oder Menschenbild vieler Bürgerlicher und Liberaler, vieler Humanisten und selbstredend auch vieler Sozialisten und Kommunisten, die sich in der Vergangenheit und Gegenwart für ein Grundeinkommen ausgesprochen haben. Schauen Sie sich in der einschlägigen Literatur unter den ProtagonistInnen des Grundeinkommens um. Das Leitbild, von dem Sie sprechen, geht von einem positiven Menschenbild und der prinzipiellen Freiheitsfähigkeit des Menschen aus, kennt aber auch die Tücken menschlicher Natur, wird also immer neben der materiellen Absicherung frei gewählter Teilhabe an der Gesellschaft weitere Ermöglichungsstrukturen für diese Teilhabe schaffen - blättern Sie einfach bei einem Klassiker des Grundeinkommens - André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt/Main, 2000. Dass das positive Menschenbild keine Fiktion ist, können Sie am enormen Umfang derjenigen Tätigkeiten ablesen, die nicht bezahlt und dennoch getan werden. Im Jahre 2001 betrug die Stundenzahl der im privaten Haus- und Erziehungsbereich und im bürgerschaftlichen Engagement geleisteten Stunden 96 Milliarden. Dem gegenüber standen lediglich die Hälfte, nämlich 56 Milliarden Stunden, im Bereich der Erwerbstätigkeit.
Wie Sie als Volkswirtschaftler sicher auch wissen, steigt die Zahl der freiwillig im bürgerschaftlichen Bereich Engagierten - sowohl bei Personen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, auch bei Erwerbslosen. Das Menschenbild des Grundeinkommens ist also ein höchst realistisches. Es lehnt die Unterstellung ab, dass Menschen nur gegen Bezahlung aktiv sind.

Auch Ihre Vorstellung, dass Sie bei einem Grundeinkommen (der Satz für Kinder beträgt nach dem Konzept der BAG Grundeinkommen in und bei der Partei DIE LINKE. übrigens 475 Euro, siehe www.die-linke-grundeinkommen.de) nur noch die Hälfte ihre Vollzeitarbeitsstelle ausfüllen würden, zeugt davon, dass Sie sich offensichtlich viel mehr für Ihr Leben an Sinnvollem vorstellen können, als nur Erwerbsarbeit.

Zum Arbeitsmarkt: Es ist eine gewünschte Folge, dass das Grundeinkommen Menschen dazu inspiriert, einen Teil Ihrer Erwerbsarbeitszeit solidarisch den Menschen zur Verfügung zu stellen, die eine Erwerbsarbeit suchen oder nach mehr Erwerbsarbeit nachfragen. (Das geht natürlich nur mit einem ausreichend hohen Transfer, welcher die Kriterien eines Grundeinkommens erfüllt.) Durch ein Grundeinkommen einen Anreiz zum solidarischen Teilen von Erwerb zu geben, dass war auch die Intention des DGB-Chefs Sommer, als er im Jahre 2001 ein Grundeinkommen für Vollzeitarbeitende vorschlug. Das Vollzeitbeschäftigte mehr freie Zeit für sich und ihre Interessen haben wollen, ist empirisch belegt - die Bereitschaft steigt mit der monetären Absicherung des Arbeitszeit- bzw- Einkommensausfalles, z.B. durch ein Grundeinkommen. Bezüglich Ihrer Annahme, dass dann die Wirtschaft zusammenbrechen könnte: Nehmen Sie nur mal die mögliche Anzahl von Menschen, die ihre Erwerbsarbeitszeit mit einem Grundeinkommen verkürzen würden und die Anzahl der Menschen, die überhaupt eine Erwerbsarbeit oder eine längere Arbeitszeit wünschen. Sie werden zu dem Ergebnis kommen, dass das Grundeinkommen, verbunden mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten, für alle eine win-win-Situation darstellt sowie keineswegs das nötige BIP verunmöglicht. Übrigens würde ich mich nicht so sehr am BIP als Gradmesser der Bereitsstellung angeblich gesellschaftlich notwendiger Güter und Dienstleistungen auf dem bezahlten Arbeitsmarkt festhalten: Als Volkswirtschaftler wissen Sie um die vielen ökologisch und sozial desaströsen Arbeiten am Arbeitsmarkt, die sich alle im BIP wiederfinden. Nur weil eine Arbeit bezahlt wird oder im BIP erscheint, ist sie noch lange nicht gesellschaftlich notwendig oder gar sinnvoll.

Einer Unterstellung möchte ich energisch widersprechen: Sie unterstellen, dass Hartz IV - Beziehende faktisch nur gering produktiv sein könnten. Abgesehen von dem Argument, was ich eben ausführte, welche Tätigkeiten Sie als "produktiv" bewerten, möchte ich nur anmerken, dass unter den Langzeitwerbslosen auch sehr viele Menschen mit vollkommen ausreichender beruflicher Ausbildung sind. Und dort, wo diese Ausbildung nicht den Anforderungen entspricht, sind berufliche Aus- und Weiterbildung sinnvoll. Das gilt aber für Erwerbstätige genauso wie für derzeit Erwerbslose - gewisse berufliche Weiterbildungen sind in allen Bereichen der Gesellschaft notwendig, weil sich die beruflichen Anforderungen schlicht und ergreifend verändern.

Mit freundlichen Grüßen
Katja Kipping