Frage an Katrin Göring-Eckardt bezüglich Deutsche Einheit / Innerdeutsche Beziehungen (bis 1990)

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Katrin Göring-Eckardt
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Karin K. •

Frage an Katrin Göring-Eckardt von Karin K. bezüglich Deutsche Einheit / Innerdeutsche Beziehungen (bis 1990)

Wir alle wissen, daß es bei der Vollendung der inneren Einheit im wiedervereinigten Deutschland zunehmende Schwierigkeiten, Rückschläge und herbe Enttäuschungen mit gravierenden Auswirkungen gibt.
Werden Sie die alsbaldige Berufung einer Enquete-Kommission zur Thematik "Zwischenbilanz deutsche Einheit 1990- 2005"
und die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der konkrete Beiträge zur Kurskorrektur beim Aufschwung Ost zu leisten hätte, unterstützen?

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte/r Frau/ Herr Kemperdick,

vielen Dank für ihre Anfrage zur Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer. Ich glaube nicht, dass wir zur Kurskorrektur beim Aufbau Ost eine Enquete-Kommission oder einen Untersuchungsausschuss brauchen, denn die Analyse und deren Ergebnisse sind bekannt, ich verweise auf den Dohnany -Bericht. Ich sehe Handlungsbedarf bei der Umsetzung dieser Erkenntnis in die praktische Politik.
Denn CDU und FDP, aber auch die SPD begreifen den Aufbau Ost noch immer vor allem als ein gigantisches Infrastruktur-Förderprogramm, bei dem vom Bau neuer Straßen wirtschaftliche Impulse auf die gesamte Wirtschaft ausgehen sollen. Aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre hat sich in der Fachwelt jedoch immer mehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass die erhofften positiven Anreize ausgeblieben sind.
Stattdessen verlieren wir zunehmend den Anschluss im Ringen um die besten Köpfe – national wie international. Eine positive Errungenschaft aus DDR-Zeiten war das hervorragende Ausbildungsniveau der FacharbeiterInnen und IngenieurInnen. In den kommenden Jahren werden viele von ihnen in Rente gehen. Der Wissensstand der heutigen Schulabgänger wird dagegen zunehmend kritisiert, die Zahl der Schulabbrecher ist inakzeptabel hoch. Hinzu kommt der Bewerberrückgang aufgrund des Geburtenknicks der Nachwendezeit.

§ Wir brauchen daher mehr Investitionen in Schulen und Hochschulen, Forschung und Entwicklung und auch in die direkte Unternehmensförderung. Nur so schaffen wir die Grundlage für das Entstehen neuer und zukunftsfähiger Arbeitsplätze. Wir wollen in Köpfe statt in Beton investieren. Für dieses Umdenken haben wir den Weg bereitet. Daran werden wir weiterhin konsequent festhalten.

§ Damit der Solidarpakt II seine volle Anreizwirkung entfalten kann, müssen wir diese Fördermittel stärker in den Aufbau einer leistungsfähigen anwendungsorientierten Bildungs- und Forschungslandschaft und in die Stärkung von innovativen Wachstumsbranchen für Industrie und Dienstleistungen lenken. Regionale Besonderheiten müssen dabei stärker als bisher berücksichtigt werden.

§ Weil die ostdeutschen Bundesländer die Solidarpaktmittel häufig nicht
für die vorgesehenen Zwecke einsetzen, brauchen wir wirksamere Kontrollen und
gegebenenfalls Sanktionen.

§ Die Reformen am Arbeitsmarkt (Hartz I bis IV) entfalten aufgrund der besonderen Situationen Ostdeutschlands nur eine geringe Wirkung. Wenn auf 23 Arbeitssuchende nur eine offene Stelle kommt, stellt sich die Frage nach dem Fordern oder Fördern anders als in den alten Ländern. Wir wollen einheitliche Regelsätze für das Arbeitslosengeld II in Ost und West. Die unterschiedliche Höhe ist sachlich nicht mehr gerechtfertigt. Der Berechung der Regelsätze liegen die Lebenshaltungskosten gemäß der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 1998 zu Grunde. Wir gehen davon aus, dass sich die Unterschiede seit dieser Zeit nivelliert haben. Daher sind unterschiedliche Regelsätze in Ost und West nicht mehr zu rechtfertigen.
Die Menschen in Ostdeutschland wollen arbeiten, und sie nehmen dafür Belastungen in Kauf, die für viele Westdeutsche unvorstellbar sind. So ist der Anteil der Ostdeutschen, die für ihre Arbeit über mehrere Ländergrenzen pendeln, überproportional hoch. Auch nehmen die Menschen Abstriche beim Einkommen bzw. längere Arbeitszeiten in Kauf. Bruttoeinkommen zwischen 800 € und 1.000 € sind in Ostdeutschland keine Ausnahme, sondern in einigen Branchen die Regel. Es fehlt den Menschen in Ostdeutschland nicht am Arbeitswillen, sondern es fehlen in Ostdeutschland Unternehmen, die Arbeitsplätze zu fairen Bedingungen anbieten.

§ Daher braucht die ostdeutsche Wirtschaft eine deutliche Stärkung des Mittelstandes. 80% der Betriebe in Ostdeutschland beschäftigen zwischen 1-9 Mitarbeitern und sorgen gleichzeitig für 80% der Arbeitsplätze! In Ostdeutschland fehlen ca. 100.000 Unternehmen. Für neue Unternehmen brauchen wir auch neue Unternehmer. Wir wollen daher die Rahmenbedingungen so gestalten, dass sich die Gründungsdynamik erhöht und Hemmnisse für Neugründungen beseitigt werden.

§ Gleichzeitig muss die Konkurrenz- und Überlebensfähigkeit der vorhandenen klein- und mittelständischen Unternehmen gestärkt werden. Insbesondere wollen wir die Bedingungen für die Mittelstandsfinanzierung verbessern. Die Unternehmen müssen sowohl bei Neugründungen als auch bei Erweiterungen leichter an Kredite kommen, und das Hausbankenprinzip bei Krediten der KfW muss überdacht werden. Außerdem müssen in Ostdeutschland neue Wege bei der Besicherung von Krediten gegangen werden, da die traditionelle Beleihung von Immobilien und Anlagen durch die Banken nur noch in geringem Maße akzeptiert wird.

§ Wir haben in den vergangenen drei Jahren deutliche bündnisgrüne Akzente bei der Verkehrsplanung in Ostdeutschland gesetzt. Durch unseren Einsatz werden z.B. der Ausbau der Eisenbahnstrecke Berlin – Cottbus – Görlitz oder die südliche Schienenanbindung der Insel Usedom umgesetzt. Wir haben u.a. den geplanten Autobahnbau der A 16 oder die Ortsumgehung Potsdam verhindert, weil dafür kein Bedarf besteht und ihr wirtschaftlicher Nutzen zweifelhaft ist. Wir fordern daher verstärkte Anstrengungen für den Erhalt der vorhandenen Verkehrsinfrastruktur und eine Konzentration der Neubauten auf wenige, wichtige Lückenschlüsse.

§ Wir haben die Probleme, die sich aus dem demografischen Wandel und der hohen Abwanderung ergeben, frühzeitig und offensiv thematisiert. Die Unterschiede zwischen prosperierenden Gebieten, z.B. Jena und Weimar, und schrumpfenden Regionen werden immer größer. Den notwendigen Umbau in den Bereichen der Verkehrs- und Wohninfrastruktur sowie der technischen Ver- und Entsorgung werden wir weiter vorantreiben.

§ Wir werden uns dafür einsetzen, dass regionale Leitlinien erarbeitet werden, die künftige Mindestanforderungen an die öffentliche Daseinsvorsorge (z.B. Schulen, Krankenhäuser, Verkehr) definieren. Wir wollen Siedlungsstrukturen so entwickeln, dass sie dauerhaft tragfähig, d.h. demographiefest sind. Dazu leistet das Programm "Stadtumbau Ost" einen großen Beitrag. Deshalb muss dieses Programm über das Jahr 2009 hinaus verlängert werden.

§ Wir brauchen eine Aufbruchstimmung im Osten. Dazu ist das Engagement
jedes Einzelnen gefragt. Ohne eine nachhaltige Stärkung des
zivilgesellschaftlichen Engagements ist diese Aufgabe nicht zu meistern.
Durch Eigeninitiative entstehen neue Perspektiven in den Regionen, aus denen
sich auch neue Erwerbsmöglichkeiten für den Einzelnen ergeben. Aber diese
Eigeninitiative muss auch gefördert und unterstützt werden. Dabei steht der
geringe finanzielle Einsatz in keinem Verhältnis zum großen Nutzen für die
Gesellschaft.

§ Nur mit einer deutlichen Stärkung der zivilgesellschaftlichen
Strukturen können wir sowohl die Abwanderung der jungen Menschen aus
Ostdeutschland als auch ein weiteres Vordringen rechtsextremer Strukturen und
Milieus aufhalten. Dies ist unsere gemeinsame Verantwortung.
Die zugespitzte Problemlage im Osten bietet die Chance, neue Wege zu
beschreiten, die für unser gesamtes Land richtungweisend sind. Gleichwertige
Lebensverhältnisse in Ost und West bedeuten für uns nicht Einheitlichkeit,
sondern Vielfalt. Sie eröffnet Möglichkeiten für eigenständige
Entwicklungswege, unsere Vorschläge habe ich benannt, es gilt sie jetzt in
die Praxis umzusetzen.

Mit freundlichen Grüßen,

Katrin Göring-Eckardt

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