Frage an Lothar Binding bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

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Lothar Binding
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Frage an Lothar Binding von Peter D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Guten Tag Herr Binding

Ich bin über Offenheit und Tiefgang Ihrer Antworten überrascht und hatte mehrfach den Eindruck, Sie wünschten auch eine Erneuerung und Entwicklung der persönlichen, politischen Kultur bei "allen" Bürgern. Ich glaube, dass darin die einzige reelle Chance liegt, unsere Gesellschaft auf den Weg zu bringen, den sich die Mehrheit ausdrücklich wünscht. Immerhin entdeckt man in den Gesprächen mit verschiedensten Personen meist ähnliche Grundwerte: Offen, fair, selbstbewusst, mit einer guten Balance zwischen Wohlstand, Bescheidenheit und Freigiebigkeit, respektvoll gelebte Verantwortung nach außen...

Um das anzustreben und das Erreichte (das immer noch durchaus stolz machen kann, wenn man nicht gerade wütend auf die städtischen Grundschulen blickt) zu bewahren, muss sich die Mehrheit dafür interessieren und den "Staat" zum persönlichen Thema machen. Über aktuelle Fragen und Befindlichkeiten hinaus. Kritik und Protest äußert man gern, Was ich hier als nächstes tun könnte, traut sich aber kaum jemand zu fragen.

Gründe sehe ich auf den ersten Blick drei:
1) das Gefühl (!) der Überlastung - in meinem Umfeld sind viele latent burnout-gefährdet - von vielfältigen Ansprüchen belagert. Engagement jenseits eine online-Petition wird immer wieder verschoben.
2) gewachsenes Misstrauen gegen "Politiker" - befödert von einer großen, gefühlten Ferne zu Vertretern (wie Ihnen) und Institutionen. Hier zu schreiben ist ein Akt, um das für mich zu verändern.
3) die Unübersichtlichkeit von Themen, Medien und Prozessen. Teils notwendigerweise, teils komplett unnötig (und gewollt?!) - jedes relevante Thema müsste ich zwischen einem und fünf Tagen Vollzeit recherchieren, um eine halbwegs produktive Position zu haben. Wie kann man sich als Bürger dabei als Staats-Souverän gebärden?

Meine Frage: Welche Institutionen, Personen etc. widmen sich professionell der Frage, wie man den Einzelnen befähigt und motiviert, gerne und gut Staat zu machen? Da will ich mitmachen.

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Sehr geehrter Herr Dreißig,

vielen Dank für Ihre freundliche Mail. Sie schreiben: „Ich glaube, dass darin die einzige reelle Chance liegt, unsere Gesellschaft auf den Weg zu bringen, den sich die Mehrheit ausdrücklich wünscht. Immerhin entdeckt man in den Gesprächen mit verschiedensten Personen meist ähnliche Grundwerte: Offen, fair, selbstbewusst, mit einer guten Balance zwischen Wohlstand, Bescheidenheit und Freigiebigkeit, respektvoll gelebte Verantwortung nach außen…“

Dabei ist es nicht so einfach „die Mehrheit“ zu begeistern. Oft wird schnell klar, was nicht gewollt ist. Sich mehrheitlich darauf zu verständigen was gewünscht wird, ist ungleich schwieriger.
Sie finden „in den Gesprächen mit verschiedensten Personen meist ähnliche Grundwerte: Offen, fair, selbstbewusst, mit einer guten Balance zwischen Wohlstand, Bescheidenheit und Freigiebigkeit, respektvoll gelebte Verantwortung nach außen…“ Das geht mir auch so – allerdings ist die Übereinstimmung umso größer, je abstrakter das Gespräch und die Ziele. Viel schwieriger wird es, wenn es um die konkrete Ausgestaltung, die konkrete Gesetzgebung geht und jeder seine ichbezogene Variante ausrechnet.

Auf dieser Plattform (Abgeordnetenwatch) finden Sie unter meiner Antwort an Herrn Kiesinger einen – sagen wir etwas übertrieben – Streit zwischen den Machern von Abgeordnetenwatch Herrn Hackmack und Herrn Hekele und mir, der dadurch entsteht, dass es eine unüberwindbare Asymmetrie im Entscheidungsprozess zwischen Zustimmung und Ablehnung in Großgruppen gibt. Weil diese Asymmetrie selten mitgedacht wird, erhalte ich auch viel Post, in der sich der Satz findet; „und ganz viele andere Menschen denken ebenso…“ Jeder wähnt sich im Besitz der Mehrheit – das gilt aber leider viel leichter in der Ablehnung als in der Zustimmung. Ein Beispiel: Sie sollen für Ihre Abteilung ein Auto kaufen. Klar: möglichst viele sollen zustimmen. Sie schlagen die Farbe Rot vor, weil dies die schönste Farbe ist. Nun genügt es für die Ablehnung Ihres Vorschlags, dass jeder und jede eine andere Farbe schöner findet. Einer will lieber Schwarz, die andere Magenta, auch Grün und Silbermetallic werden von einzelnen bevorzugt. Die Ablehnung ist gesichert. Aber nun aus der Abteilung heraus einen Vorschlag zu finden, dem alle oder fast alle zustimmen ist bei der Geschmacksvielfalt sehr schwierig bis unmöglich – es sei denn, Kompromisse werden akzeptiert. Also etwa Silbermetallic mit grün-rot-schwarz karierten Streifen… Die Magenta-Fraktion hat aber immer auch damit immer noch „Bauchschmerzen“. Zum Schluss sind Sie erschöpft und froh, dass alle nun ein Auto haben – egal was die Leute über Ihren Geschmack sagen.

Wenn Sie sich jetzt vorstellen, Sie müssten in einer großen Gesellschaft einen Konsens hinsichtlich der „Balance zwischen Wohlstand, Bescheidenheit und Freigiebigkeit… “ herstellen – Sie erkennen das Problem. Deshalb bin ich umso dankbarer für Ihre Frage, die darauf hindeutet, dass Sie sich solch schwierigen Aufgaben zuwenden.

Ihre Frage nach den Möglichkeiten sich zu engagieren beantworte ich sehr gern: Wenn Sie dabei auch an einen möglichst guten Praxisbezug denken, möchte ich Ihnen die demokratischen Parteien vorschlagen. Dort finden Sie aus allen Bevölkerungsschichten, allen Branchen und vielen Lebenslagen Experten… und auch Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, die sich um die Gesetzgebung kümmern und für Beratung und Diskussion in vielen Spezialfragen dankbar sind. Aber das wird für Sie keine leichte Angelegenheit – in meiner Partei wird z.B. (fast) immer Rot vorgeschlagen – weil bei uns soziale Gerechtigkeit und Frieden, Freiheit Gleichheit und Solidarität das Wichtigste ist. Aber viel zu oft wird in den Parlamenten rot-schwarz-grün-farblos gefleckt entschieden – auch weil viele Zeitungs- bzw. Medienmacher stets genau wissen, was nicht gewollt wird… aber nicht darüber schreiben was mehrheitlich konsensfähig ist. Sie sind eben im gleichen Dilemma wie wir alle.

Sie spüren sicher, warum ich die Arbeit in der Politik und in der SPD wichtig und spannend finde.

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Lothar Binding